„Durst ist schlimmer als Heimat“
In einem Wirtshaus sah ich einen Wandteller. Auf ihm waren zwei Wegweiser aufgemalt. Der nach rechts zeigende trug die Aufschrift: Heimat. Der nach links war mit dem Wort Durst beschrieben. In der Mitte zwischen beiden waren ein paar Männer abgebildet, alle offenbar auf dem Weg, den ihnen der Wegweiser Durst zeigte. Darunter stand geschrieben: „Durst ist schlimmer als Heimweh“. Darüber, wen wundert es noch, war die Werbung für eine bestimmte Biersorte angebracht. Es war eben eine Werbung, die den Konsum dieses Bieres ankurbeln sollte. Trotzdem hat sie Recht. Denn man kann Jahr um Jahr leben mit dem Heimweh in Herzen. Wenn der Durst nicht gestillt wird, überlebt man nur wenige Tage. Doch muss es ja nicht Bier dieser dort angezeigten Sorte sein, um den Durst zu löschen.
Besser als Bier
Meine Frau und ich haben einmal eine lange Wanderung in den nördlichen Vogesen gemacht. Uns begegnete kein Mensch, kein Wirtshaus stand an unserem Weg, kein Haus, nur Bäume. Wir hatten es ja nicht anders gewollt; es war genau das, was wir ersehnt hatten. Aber nun wurde das Vergnügen an unserer Wanderung doch sehr getrübt. Wir bekamen Durst. Zwar hatten wir vorsorglich Wasserflaschen mitgenommen, aber die waren in der Hitze schon lange leergetrunken. Der Mund wurde immer trockener, die Zunge klebte buchstäblich am Gaumen. Wir hofften, dass doch bald ein menschliches Anwesen komme, ganz gleich, ob es ein Privathaus oder eine Gaststätte wäre. Es kam aber kein menschliches Anwesen. Nun, wir würden auch diese Durststrecke überleben, daran bestand kein Zweifel. Es kam jedoch etwas anderes: ein Brunnen. Da hatte jemand liebevoll eine Quelle gefasst, und das Wasser rann durch ein hölzernes Rohr in ein Steinbecken. Wir stürzten auf die Quelle zu; ich ließ natürlich meiner Frau den Vortritt, aber dann durfte ich selbst meinen Durst mit dem klaren, kalten Quellwasser stillen. Ich habe nie etwas getrunken, was diesem frischen Wasser gleichkam. Es war köstlich. Nachdem wir uns sattgetrunken hatten, setzten wir unsere Wanderung fort, und diesmal reichte die flüssige Nahrung bis zu unserer Pension. Dieses Wasser schmeckte uns besser als die beste Biersorte. Aber nach einer Weile stellte sich der Durst wieder ein. Wir haben ihn dann auch wieder mit Bier oder Wein gestillt. Aber der Wohlgeschmack des Wassers auf unseren dürren Zunge blieb mir immer gegenwärtig.
„Was betrübst du dich, meine Seele?“
Der Durst ist auch in der Bibel ein ständiges Thema. Am besten nachfühlen konnte ich auf dieser Wanderung einen Satz aus den Psalmen: „Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, nach dir“ (Psalm 42,2). Wir haben zwar nicht nach frischem Wasser geschrien, soweit war es nun doch noch nicht gekommen. Aber so, wie unsere Leiber nach frischem Wasser dürsteten, so dürstet auch die Seele nach dem, was sie am Leben hält und sie freut. Augustinus sagt: „Die Seele nährt sich von dem, was sie freut.“ Was aber die Seele freut und am Leben erhält, auf diese Frage erhält man viele Antworten. Die Alltagskultur soll ebenso dazu dienen wie die Hochkultur. Hier geht es aber genauso zu wie beim körperlichen Durst: Irgendwann ist die Wirkung verflogen, und man braucht neue Anreize. Deshalb schreit die Seele nach den Worten des Psalms nicht nach irgendwelchen kulturellen Errungenschaften, sondern nach Gott. In ihm, so verkündet der Verfasser den Psalms, findet die Seele, was sie braucht. Am Ende bekennt er: „Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott; denn ich werde im noch danken, dass er meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist“ (Psalm 42,6 par.). Offenbar ist damit der Durst seiner Seele gestillt.
Durst sei schlimmer als Heimweh, sagte der Wirtshausteller. Er hat Recht. Aber schlimmer als der Durst nach Bier ist der Durst nach Gott. Nur in der Begegnung mit Gott kann dieser Durst gestillt werden. Und das immer wieder von neuem.