Zwei Personen auf einer Bank blicken auf ein Wolkenmeer
Gemeinfrei via unsplash.com/Claudio Schwarz
Wait and see
Verschiedene Arten zu warten
14.06.2020 07:05
Sendung nachlesen:

In der Warteschlange oder in der Warteschleife, in der Wartezone oder im Wartezimmer: Dass wir viel Lebenszeit mit Warten verbringen, ist keine neue Erkenntnis. Doch manche Bilder sind neu, die man da jetzt vor Augen hat: die Schlange vor dem Supermarkt und nicht nur an der Kasse wie früher, vor den Corona-Zeiten; das auf Abstand bestuhlte Wartezimmer und die unruhigen Blicke, wenn jemand hustet.

Wer warten muss, braucht Geduld; und manchmal viel davon. Wenn es sich hinzieht; und wenn es dabei um etwas Größeres geht.

Wann wird die Hochzeit stattfinden können, so schön, wie sie für Anfang Juni geplant war; mit den 120 Leuten, die einfach dazugehören?

Wann wird das Ensemble wieder auf der Bühne stehen und vor einem richtigen Publikum spielen können, in der dichten Atmosphäre, von der das Stück lebt; und von der das Spielen selbst lebt?

Wie lange wird es dauern, bis ein Impfstoff gefunden ist; und bis so viel davon hergestellt werden kann, dass flächendeckend, weltweit alle geschützt sind? Wird es diesen Impfstoff überhaupt geben?

Wer warten muss, muss warten können.

"Die Kunst des Wartens besteht darin, inzwischen etwas anderes zu tun." Dieser schöne starke Satz stammt von dem Schriftsteller Heinrich Spoerl. "Die Kunst des Wartens besteht darin, inzwischen etwas anderes zu tun."           

 

 

Die Bibel erzählt von einem Mann und einer Frau, die offenbar gut sind in der Kunst des Wartens. Beide sind alt, hochbetagt. Doch dabei sind sie anscheinend jung geblieben im Kopf und im Herzen; und in ihrer Hoffnung. So werden sie im 2. Kapitel des Lukasevangeliums beschrieben:

 

"Und siehe, ein Mensch war in Jerusalem mit Namen Simeon; und dieser Mensch war gerecht und gottesfürchtig und wartete auf den Trost Israels.

Und es war eine Prophetin, Hanna. Sie war hochbetagt; eine Witwe von vierundachtzig Jahren. Sie wich nicht vom Tempel und diente Gott mit Fasten und Beten Tag und Nacht." (Lukas 2, 25.36f)

 

Simeon und Hanna haben nicht aufgehört zu warten auf das, worauf sie hoffen, "auf den Trost Israels". Das ist ein anderer Name für den Messias und das neue Leben, das er bringen soll: Befreiung, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit für das Land, in dem sie leben; für die, die nach ihnen kommen; und für die Welt im Ganzen. Bis in ihr hohes Alter hinein halten die beiden an der großen Hoffnung ihres Volkes fest: "dass die Knechtschaft ein Ende hat; dass der Glanz Gottes über dem Dunkel aufgeht". (Jesaja 40,2; 60, 2f) Das wollen Simeon und Hanna noch erleben; darauf warten sie.

Und inzwischen tun sie etwas anderes. Sie übersetzen die große Hoffnung in Zuversicht und Geduld und gestalten damit ihr Leben von Tag zu Tag; gehen in den Tempel, fasten, beten, halten die Augen offen. Das ist ihre heilsame Alltagsroutine; ihre Art, die Kunst des Wartens zu üben.       

 

Nach wie vor gehört bei vielen Menschen das Beten zu ihrer persönlichen Alltagsroutine. Es würde ihnen etwas fehlen ohne dieses Innehalten und Worte atmen. Sie nehmen den Tag aus Gottes Hand, wollen aufmerksam mit der geschenkten Zeit umgehen und dafür Kraft schöpfen. In schwierigen Phasen und Ausnahmezeiten bekommt das oft eine noch größere Bedeutung.

Was auch für andere Dinge gilt, die im Leben von Tag zu Tag normalerweise eine wichtige Rolle spielen. Wenn ich in diesen Corona-Zeiten den sogenannten Arbeitsalltag inklusive der Gespräche mit den Kolleginnen und Kollegen vermisse, spüre ich, was mir das Ganze bedeutet; ja, indem ich merke, es fehlt mir.

Oder vermeintlich selbstverständliche Dinge zeigen sich in einer neuen Qualität.

Ich genieße einen Fernsehfilm, der mir in normalen Zeiten wahrscheinlich entgangen wäre. Ich freue mich über die Mail, die schon fast ein Brief ist.

Es geht darum, die Augen offen zu halten und das Leben zu spüren: wofür ich dankbar bin; was mir fehlt; was ich mir für das Zusammenleben wünsche; wofür ich mich einsetzen will; was meine Hoffnung ist; worauf ich warte.              

 

 

Das Warten kann zu einem Dauerzustand werden und ein Leben durch Jahre hindurch belasten.

In Deutschland warten etwa 8.000 Dialysepatienten und -patientinnen auf eine Nierentransplantation. Wer sie tatsächlich bekommt, hat am Ende im Durchschnitt acht Jahre darauf gewartet. Und hier bedeutet Warten, abhängig zu sein von medizinischen Geräten, engmaschig untersucht zu werden, sich selbst streng zu kontrollieren und sich immer bereitzuhalten. Und es bedeutet auch, öfter hart zu ringen und zu hadern mit der Situation. Gut, wenn man damit nicht allein ist, sondern aufgehoben in einer Beziehung, einer Familie und in Freundschaft. Die sind natürlich mitbetroffen und müssen manchmal viel aushalten. Und das alles jahrelang. Doch die meisten warten vergeblich auf eine Transplantation.

Viele Paare warten vergeblich auf das Kind, das sie sich ersehnen. In Deutschland müssen etwa neun Prozent der Paare mit einem unerfüllten Kinderwunsch zurechtkommen, oft ein jahrelanger Prozess mit immer neuem Hoffen und Warten. Viele holen sich medizinische Beratung und Unterstützung. Sie müssen dann entscheiden, welche Wege sie beschreiten und wie viele Schritte sie da gemeinsam unternehmen wollen. Und herausfinden, wie weit die Ausdauer reicht. Manche müssen am Ende schmerzhaft Abschied nehmen von ihrem Lebenswunsch und haben dann immer mal wieder damit zu kämpfen, dass er sich nicht erfüllt hat.

Auf so etwas Großes vergeblich zu warten, gehört wohl zum Schwersten, das Menschen zu bewältigen haben. Da werden viele Bewältigungskräfte gebraucht. Wie gut, wenn die sich finden; und wenn es verschiedene Quellen gibt, aus denen sie sich speisen können: Gespräche und Gebete, sinngebende Tätigkeiten und Bewegung, besondere Worte und Musik.

Für mich selbst ist auf Durststrecken und in finsteren Tälern Musik oft eine wichtige Wegbegleiterin gewesen, die besänftigt und stärkt. Meine Lebensmusik hat verschiedene Farben, ist also nicht nur im engeren Sinn geistliche Musik; aber eben auch die; und da vor allem das Kirchenlied, das schon angeklungen ist: Wer nur den lieben Gott lässt walten.                                                                         

 

Diese Melodie ist für mich eine Wegbegleiterin, der Text ein Wegbegleiter. Von Anfang an sind sie miteinander verbunden; der Dichter ist zugleich der Komponist. Georg Neumark hat sein Lied als "Trostlied" bezeichnet und hat im Rückblick auf sein Leben davon erzählt, wie es entstanden ist.

Im Jahr 1640, der Dreißigjährige Krieg ist noch in vollem Gange, hat Georg Neumark das Gymnasium in Gotha abgeschlossen. Von dort bricht er nach Norden auf mit dem Ziel Königsberg, wo er ein Jurastudium beginnen will. Aber dort wird er lange nicht ankommen. Die Reisegruppe, der er sich angeschlossen hat, wird in der Gardelegener Heide überfallen und ausgeraubt. Bücher, Kleider, Geld – fast alles wird dem jungen Mann genommen; nur das Stammbuch mit Empfehlungs- schreiben bleibt ihm. Damit zieht er weiter, hinein ins Ungewisse, in harte, aufreibende Herbst- und Wintermonate. Im Land tobt der Krieg. Magdeburg, Lüneburg, Hamburg – an keiner Station gelingt es ihm, eine Anstellung zu finden und Fuß zu fassen; trotz mancher Fürsprache und Unterstützung für einen offenkundig begabten jungen Mann. Wie lange soll das noch so gehen? All die Vergeblichkeit nagt an ihm. Nach wie vor steht Georg Neumark mit leeren Händen da; auch als er schließlich mit Hamburger Bierkutschern in Kiel landet. Über seine Verzweiflung dort schreibt er:

 

"So wurde ich so melancholisch, daß oftmals ich des Nachts in meiner Kammer den lieben Gott mit heißen Tränen kniend um Hilfe anflehete." (1)

 

Die persönliche Not und die Stimmung, die der Dichter "melancholisch" nennt, wirken spürbar in die Melodie seines Liedes hinein. Obwohl Georg Neumark da schon erlöst und voller Dankbarkeit ein großes Loblied schreibt. Denn in Kiel findet er durch die Fürsprache eines Pfarrers und eines Arztes endlich eine Anstellung als Lehrer, zunächst aushilfsweise, dann fest. Im Rückblick schwingt seine Erlösung noch nach:

 

"Welches schnelle und gleichsam vom Himmel gefallene Glück mich herzlich erfreuete, und [hatte gnug Ursache] noch des ersten Tages meinem lieben Gott zu Ehren das hin und wieder wohl bekannte Lied: Wer nur den lieben Gott lässt walten... aufzusetzen und [...] der göttlichen Barmherzigkeit [...] herzinniglich Dank zu sagen." (2)

 

Neumark bleibt zwei Jahre in Kiel. 1644 reist er mit dem Schiff nach Danzig und von dort weiter nach Königsberg, dem Ziel seiner langen Reise mit vielen Hindernissen.                                                                                  

 

Georg Neumark nennt sein Lied ein "Trostlied." Das sollte es für möglichst viele Menschen werden. Und bei vielen hat es funktioniert; auch bei mir.

Das liegt wohl zuerst einmal an der Tonart und an der Melodieführung. Das gedeckte g-Moll und die melancholische Farbe tun dem Text gut; sie machen ihn stärker, indem sie ihn weicher machen. Hier herrscht nicht der Brustton der Überzeugung, sondern der Bauchton des Vertrauens. Dieser Bauchton kann allgemeine Sätze in existentielle Worte verwandeln. Wenn da zum Beispiel steht "Gott weiß, was uns fehlt"; oder "Die Folgezeit verändert viel".

In Zeiten des Wartens nimmt ein großes Vertrauen die Gestalten seiner beiden kleineren Schwestern an, Geduld und Zuversicht. Sie sollen mit dem Lied gestärkt werden.

 

"Man halte nur ein wenig stille und sei doch in sich selbst vergnügt,

wie unsers Gottes Gnadenwille, wie sein Allwissenheit es fügt."

(Evangelisches Gesangbuch 369, 3)

 

Manchmal bedeutet Warten tatsächlich anhalten und abwarten; wait and see, keine leichte Übung. Doch womöglich eine Gelegenheit zum Innehalten. Man sieht sich um, schaut innere Bilder an, horcht in sich hinein und lässt den Gedanken ihren Lauf. Und man kann die Zeit nutzen, bewusst zurückblicken und Erinnerungen wachrufen. Wie viele Ängste und Sorgen in der Vergangenheit haben sich dann doch wieder aufgelöst? Was hat sich nicht schon alles wie von selbst gefunden und zusammengefügt? Wie habe ich zuletzt eine schwierige Sache hingekriegt? Und woher kam Hilfe?

Ja, Innehalten und Zurückblicken kann einen innerlich stärker machen. Erinnerung hat Kraft. Und sie kann auch Spuren legen, denen man folgen kann.

 

"Sing, bet und geh auf Gottes Wegen, verricht das Deine nur getreu

und trau des Himmels reichem Segen, so wird er bei dir werden neu."

(Evangelisches Gesangbuch 369, 7)

 

Warten in Geduld heißt dann auch, beharrlich dranbleiben an den Dingen, die in meiner Macht stehen; und einen offenen Blick haben für das, was gerade dran ist. Das erinnert mich an den Satz von Heinrich Spoerl: "Die Kunst des Wartens besteht darin, inzwischen etwas anderes zu tun." Da geht es zuerst einmal um die nächsten Dinge, die zu tun sind – und noch nicht um die übernächsten. Dann zählt dieser Tag und das, was er bringt.

Insofern ist "Wer nur den lieben Gott lässt walten" nicht nur ein Lied für persönliche Durstrecken und für Ausnahmezeiten; sondern auch eins, das man gut unter der Dusche singen kann. Ich hänge besonders an der Version der sogenannten Kantorianer aus dem Film Vaya con Dios.                                             

 

Warten bedeutet ursprünglich Ausschau halten. Das tue ich, wenn ich an der Haltestelle stehe und auf den Bus warte. Und ich tue es, wenn ich in den Corona-Zeiten jetzt nach Möglichkeiten Ausschau halte, Freundinnen und Freunde zu treffen, ohne dass sich dabei jemand beklommen fühlen muss. Darauf warte ich; viele warten darauf.

In der Bibel hält einer sehnsüchtig Ausschau nach Gott und betet:

 

"Ich harre des Ewigen. Meine Seele wartet auf den Herrn, mehr als die Wächter auf den Morgen." (Psalm 130,5+6)

 

Mehr als die Nachtwache auf das Morgenrot auf Gott warten; das ist ein poetischer und für mich zugleich ganz lebensnaher Ausdruck für das, was "glauben" auch bedeutet. Weil Glaube kein Dauerkontakt ist; weil Gott unverfügbar ist und manchmal verborgen. In Zeiten der Abwesenheit Gottes kann ich nicht mehr tun als genau das: auf Gott warten. Ausharren und Ausschau halten, das ist dann alles, was vom Glauben übrigbleibt. Nicht viel, aber nicht gering zu schätzen, finde ich.

In einigen Radio- und Fernsehgottesdiensten der letzten Zeit wurde ein Text von Dietrich Bonhoeffer als Glaubensbekenntnis gesprochen, in dem ich das Auf-Gott-warten wiederfinde.

 

"Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen. Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage soviel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im Voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen. In solchem Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein." (3)

 

Ich gebe zu: Wenn ich diese letzten Worte mitspreche, sagt manchmal etwas in mir Nein; so ist es nicht. Doch, sagt der Text zurück, so ist es.

Und am Ende sagt er noch etwas anderes: Gott selbst ist einer, der wartet.

 

"Ich glaube, dass Gott kein zeitloses Fatum ist, sondern dass er auf aufrichtige Gebete und verantwortliche Taten wartet und antwortet." (4)

 

Das bedeutet, Gott wartet auf uns. "Aufrichtige Gebete und verantwortliche Taten", das klingt groß. Lässt sich aber alltagstauglich übersetzen: Den Tag aus Gottes Hand nehmen, aufmerksam mit der geschenkten Zeit umgehen und dafür Kraft schöpfen; einen offenen Blick haben für das, was gerade dran ist; und es tun.

Das wäre dann eine Art zu warten, die Zukunft hat, indem sie Gegenwart atmet.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:     

Wer nur den lieben Gott lässt walten

  1. Sacre Fleur, Version 2009
  2. Johann Sebastian Bach, BWV 690
  3. Gerhard Dickel, 2000
  4. Vocal Concert Dresden, 2013
  5. T. Gravenhorst, 2002
  6. Sacre Fleur, Version 2019

 

Literaturangaben:

(1) Geistliches Wunderhorn. Große deutsche Kirchenlieder, hg. v. H. Becker, J. Henkys,

 Ch. Reich u.a., München 2001, S. 335

(2) Ebd.

(3) Dietrich Bonhoeffer Lesebuch, hg. v. O. Dudzus, München 1985, S. 70f

(4) AaO, S. 71