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Warten und Hoffen - Hoffen und Warten
Ausschau halten im Advent
01.12.2024 07:05

Im Advent liegen Vorfreude und Erwartung in der Luft. Beide sind nicht einfach herzustellen. In diesen fragilen Zeiten will unser Autor an der Hoffnung festhalten – oder wenigstens von ihr sprechen.

Sendung nachlesen:

Für viele beginnt heute eine besondere Zeit. Die erste Kerze brennt und zeigt: Es ist wieder so weit - Advent. Oft liegt dann nicht nur ein schöner Duft in der Luft, sondern auch das eine oder andere große Wort: Besinnlichkeit, Vorfreude, Erwartung, Hoffnung. Die jeweils dazu passende Stimmung lässt sich nicht ohne Weiteres herstellen. Sie braucht eine Atmosphäre, in der sie sich einstellen kann; und sie ist fragil.

In dieser Adventszeit 2024 wird mir das wie vielen in meiner Umgebung erneut deutlich und auch schmerzhaft bewusst. Wie gut wäre es, man könnte die aufgewühlten Gemüts- und Gemengelagen mal eine Weile ausblenden. Oder viel besser: Sie würden sich beruhigen, Verständigung würde einziehen, hier und da womöglich ein Friede, der diesen Namen verdient.

Die Sehnsucht ist groß, die Räume sind eng. Besinnlichkeit und Hoffnung haben es schwer. Dennoch möchte ich etwas Ruhe finden, trotzdem am Hoffen festhalten - oder wenigstens davon sprechen. Wann, wenn nicht jetzt, in der Adventszeit? Sie ist dafür gemacht, heißt es. Die Lieder des Advent jedenfalls behaupten das. Und sie können helfen.

Wie gut, dass dieses kraftvolle Lied in der Welt ist. So dass ich es in mir wirken lassen und einstimmen kann. Es hilft, wenn die eigene Lebenswelt so aussieht: Wenn der Himmel gerade verschlossen ist; eine Tür zugeschlagen wurde; wenn kein Trost in Sicht ist und Hoffnungen zerstört am Boden liegen. Wenn eine Situation so schlimm ist, dass es einem die Sprache verschlägt; und man erst mal nicht mehr sagen kann als "Es zerreißt mir das Herz".

O Heiland, reiß die Himmel auf! Dabei habe ich Situationen vor Augen, in denen es mir so ging. Und ich denke an Menschen in meinem Umfeld, die gerade eine schwere Zeit durchstehen müssen. Reiß die Himmel auf! Dabei gehen mir Fernsehbilder nicht aus dem Kopf; oder ich habe etwas gelesen, das mich nicht loslässt.

Ich denke besonders an eine enge Freundin, die mit ihrer Familie in New York lebt, wenn ich in meiner Zeitung lese, welche tiefgreifenden Veränderungen nach der US-Wahl jetzt anstehen. Eine ganze Reihe von "Grausamkeiten" sieht zum Beispiel die Autorin Marcia Pally auf ihr Land zukommen. Marcia Pally forscht an den Schnittstellen zwischen Religion, Kultur und Politik, lehrt an der New York University und als Gastprofessorin an der Berliner Humboldt-Universität. Sie schreibt:

Ich bin in der Minderheit. Ich weiß jetzt, was es heißt, dass einem etwas das Herz zerreißt. All die Grausamkeiten, die jetzt kommen werden, zerreißen mir das Herz. … Von Trumps Erwägung, die Verfassung zu kündigen, bis zur Beschleunigung des Klimawandels durch fossile Brennstoffe; … von der Verfolgung politischer Gegner bis zum Im-Stich-Lassen der Ukraine und der Nato. …

Es zerreißt mir das Herz nicht als politische Analystin, sondern angesichts des Leids in der Ukraine, des Schicksals von Migranten ohne Papiere und von Kindern, die an Masern erkrankt sind oder sich mit Kolibakterien infiziert haben. …
Es zerreißt mir das Herz nicht als Finanzanalystin, sondern mit Blick auf all jene, die ihre Arbeit, ihr Einkommen und ihre Krankenversicherung verlieren werden. …
Die Progressiven sagen, wir sollen weiter kämpfen. Aber es zerreißt mir erst mal das Herz.
 

Das sind nur einige der "Grausamkeiten", die Marcia Pally vor Augen hat. Sie zeigen: Krisenhafte Weltlagen werden schnell zu Lebenslagen und zu Gemütslagen, kollektiv und individuell. Das heißt, man muss sich selbst irgendwie dazu verhalten und damit umgehen.

Dafür gibt es ein breites Spektrum an Möglichkeiten, auch in ein und derselben Person. Vieles hat seine Zeit: Informationen und Bilder nicht an sich heranlassen, sie ausblenden oder sie herunterspielen; resignieren oder zynisch werden; Schlimmes befürchten; in Angst geraten, sich ihr stellen, ihr etwas entgegensetzen; sich engagieren, kämpfen; hoffen, abwarten.

Für mich als religiösen Menschen gehört auch dazu, auf die Kraft von überlieferten Worten zu setzen; und mir solche Worte zu eigen zu machen: Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt? Reiß die Himmel auf! 

Auf besondere Weise spüre ich die Kraft von Worten, wenn sie mit einer Melodie verbunden sind, die mich bewegt. Das Lied O Heiland, reiß die Himmel auf wird bis heute mit der Melodie gesungen, mit der es 1666 in einem Augsburger Gesangbuch erschienen ist, vor rund 360 Jahren also.

Der Text ist noch etwas älter, er stammt aus dem Jahr 1622. Geschrieben hat ihn Friedrich Spee, katholischer Priester, Professor, Kämpfer gegen die schrecklichen Hexenprozesse in seiner Zeit, Seelsorger in Gefängnissen und Spitälern, Beistand von verwundeten Soldaten im Dreißigjährigen Krieg - und eben auch Liederdichter.

Das Beste, was seinem Text passieren konnte, war sicher, dass jemand, dessen Namen wir nicht kennen, ihn Jahrzehnte später diese Melodie dazu komponiert hat. Die Melodie atmet die existenzielle Frage "Wie lange noch?" - die Bedrängnis von allen Seiten, das ganze Elend, die inneren Kämpfe, das zermürbende Warten, die Gottesferne. Dabei wird das quälende "Wie lange noch?" verwandelt in große Bitten Richtung Himmel:

O Heiland, reiß die Himmel auf, herab, herab vom Himmel lauf,
reiß ab vom Himmel Tor und Tür, reiß ab, wo Schloss und Riegel für. …
O Gott, ein‘ Tau vom Himmel gieß, im Tau herab, o Heiland, fließ. …
Schlag aus, o Erd, dass Berg und Tal grün alles wird. …
Komm, tröst uns hier im Jammertal.
O Sonn, geh auf, ohn deinen Schein in Finsternis wir alle sein.
(3)

Mit all dem nimmt Friedrich Spee biblische Motive auf. Er schöpft vor allem aus den prophetischen Büchern der Bibel und den Psalmen. Was dort von Gott gesagt und versprochen wird, daran hält der Dichter fest; und er klagt es ein. Man soll endlich sehen und erleben, dass Gott in der Dürre lebendiges Grün sprießen lässt; dass er nicht länger in der Ferne thront, sondern auf die Erde kommt und sich zeigt; dass er tröstet, wie eine Mutter tröstet; dass es hell wird über denen, die in der Finsternis wohnen.

Darin nimmt Friedrich Spee Gott beim Wort. Er hält ihm die großen Verheißungen entgegen und bittet darum, sie sollen sich erfüllen; Gott soll sie erfüllen. Das Warten soll ein Ende haben; und es soll nicht vergeblich gewesen sein.

Wer sich dem Dichter beziehungsweise dem Beter anschließt und sein Lied singt, begibt sich hinein in seine Sprache und in seine Haltung; und kann spüren, wie das wirkt; und ob zwischen den Zeilen womöglich Hoffnung aufkeimt.

An den großen Versprechen Gottes festhalten und sich nach einer anderen Zukunft sehnen – die Bibel erzählt von einem Mann und einer Frau, die genau das tun; und die offenbar gut darin sind. Beide sind alt, hochbetagt. Doch dabei sind sie anscheinend jung geblieben im Kopf und im Herzen – und in ihrer Hoffnung.
So werden sie im 2. Kapitel des Lukasevangeliums beschrieben:

Und siehe, ein Mensch war in Jerusalem mit Namen Simeon; und dieser Mensch war gerecht und gottesfürchtig und wartete auf den Trost Israels. …
Und es war eine Prophetin, Hanna. Sie war hochbetagt, eine Witwe von vierundachtzig Jahren. Sie wich nicht vom Tempel und diente Gott mit Fasten und Beten Tag und Nacht.
(Lukas 2, 25.36f.)

Simeon und Hanna haben nicht aufgehört zu warten auf das, worauf sie hoffen: auf den Trost Israels. Das ist ein anderer Name für den Messias und das neue Leben, das er bringen soll: Befreiung, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit für das Land, in dem sie leben; für die, die nach ihnen kommen; für die Welt im Ganzen. Bis in ihr hohes Alter halten die beiden an der großen Hoffnung ihres Volkes fest: dass die Knechtschaft ein Ende hat; dass der Glanz Gottes über dem Dunkel aufgeht. (Jesaja 40, 2; 60, 2f.)

Und zwischenzeitig übersetzen sie diese große Hoffnung in Zuversicht und Ausdauer und gestalten damit ihr Leben von Tag zu Tag: gehen in den Tempel, fasten, beten, halten die Augen offen. Das ist ihre heilsame Alltagsroutine, ihre Art, das Warten zu füllen und es offenzuhalten für das, was da kommen soll – für den, der da kommen soll. (Matthäus 11, 3)

Nach wie vor gehört für viele Menschen das Beten zu ihrer persönlichen Alltagsroutine. Es würde ihnen etwas fehlen ohne dieses Innehalten und Worte-Atmen. Sie nehmen den Tag bewusst aus Gottes Hand, wollen aufmerksam mit ihrer Zeit umgehen, ihr Bestes geben und dafür Kraft schöpfen. In schwierigen Lebensphasen und in Krisenzeiten bekommt das oft noch eine größere Bedeutung.
Es geht darum, das Leben zu spüren und die Augen offenzuhalten: wofür ich dankbar bin; was mir fehlt; worauf ich warte; was ich mir fürs Zusammenleben wünsche; wofür ich mich einsetzen will; was meine Hoffnung ist.

Dabei wird mein Blick manchmal wie von selbst über meinen eigenen Lebensraum hinausgehen, hin zu anderen Orten, von denen ich weiß: Dort müssen Menschen darum kämpfen, so etwas wie Alltagsroutine elementar aufrechtzuerhalten; und darum, Hoffnungsreste zusammenzukratzen.

Die Israelin Silja Harel zum Beispiel: Sie setzt alles daran, weiter in ihrem Dorf zu bleiben, das nur fünf Kilometer von der Grenze zum Libanon entfernt ist; obwohl sie wegen Raketenbeschuss an manchen Tagen mehrmals in den Schutzraum rennen muss. Sie sagt:

Terror will Schrecken verbreiten und Menschen vertreiben. Ich habe das Gefühl, meinen Teil beizutragen, indem ich hier bin, zur Post gehe und Bus fahre. Normalität ist Widerstand.

Was für ein Satz. Normalität ist Widerstand. Dabei hat Silja Harel auch das Leid der Menschen im Libanon und in Gaza vor Augen:

Wir Israelis kennen den Krieg. Deshalb wissen wir ganz genau, dass jeder Tote einer zu viel ist. Niemand freut sich hier über tote Zivilisten. (4)

Ich habe ein Gespräch mit einer Palästinenserin gelesen, die das ähnlich empfindet. Sie engagiert sich in der palästinensischen Friedensorganisation "Women of the Sun", Sonnenfrauen, in Bethlehem. Sie mochte sich nur anonym äußern.

Krieg bringt nur Krieg. Wenn man die kommende Generation zum Frieden erziehen möchte, dann geht das nur mit den Frauen. … Was uns alle vereint, ist, dass wir genug von dieser Situation haben und einfach ein normales Leben führen wollen. Wir möchten, dass das Töten und der Krieg endlich aufhören. … Wir müssen daran glauben, dass Frieden möglich ist. Wenn wir das nicht mehr tun, dann können wir nicht leben. 

Hoffnung ist ein großes Wort – und eine große Kraft. Sie erfasst die Sorge um den morgigen Tag ebenso wie die Sehnsucht nach einem neuen Himmel und einer neuen Erde. Die Bibel stellt der Hoffnung zwei kleinere Schwestern an die Seite; sie heißen Geduld und Zuversicht. Beide holen die Hoffnung ins Leben, behalten dabei aber den weiten Horizont im Blick. Das macht sie so sympathisch und so stark. Und oft gehen Zuversicht und Geduld Hand in Hand.

Auch bei der Journalistin und Schriftstellerin Gabriele von Arnim tun sie das. In ihrem neuesten Buch widmet sie sich der Kunst der Zuversicht. Es handelt sich um einen ausführlichen offenen Brief an ihre Enkel. Für die – und für möglichst viele andere - möchte Gabriele von Armin die Zuversicht starkmachen und ihnen so dabei helfen, Zitat: die Welt mit ihren Herausforderungen wahrzunehmen und trotzdem gern und engagiert in ihr zu leben. 

An manchen Stellen spricht die Autorin sehr persönlich:

Wie ihr wisst, lebe ich täglich mit Schmerzen. Die in der Tat nagen an meiner persönlichen Zuversicht. Aber: Es könnte ja auch sein, dass sie mal weniger werden. Und bis dahin lebt es sich fraglos besser mit ihnen, wenn ich davon ausgehe, eines Tages aufzuwachen und sie sind im Dickicht des Ungewissen verschwunden. Allerdings klappt das wohl nur, wenn ich ächzend die Übungen mache, die die Therapeuten mir verschrieben haben. Die Zukunft kommt von allein, die gute Zukunft aber braucht die gute Tatenlust.
Liebste Enkel, und genau darum geht es – zu üben, was gerade so vielen abhandenkommt. Zuversicht. Es jedenfalls versuchen. Scheitern gehört dazu. Falsche Wege auch. Und ja, es ist ein mühsames Geschäft, immer wieder neu zu suchen, wo man ansetzen, wo man gestalten, wo man etwas ändern könnte. Aber genau das ist ja auch so spannend, ich sag’s einfach noch mal, ist herausfordernd und befreiend. 

An einer anderen Stelle sagt die Autorin:

Zuversicht ist Arbeit, kostet Kraft und Zeit, erfordert Beharrlichkeit, braucht Wachheit und Fantasie. Aber sie gibt auch Kraft. Weil Zuversicht uns innerlich wärmt und anspornt. 

Als religiöser Mensch verstehe ich von daher noch mal besser, dass in der Bibel Zuversicht und Gott öfter in einem Atemzug genannt werden und dass dort Menschen beten mit den Worten: Du, Gott, bist meine Zuversicht. (Psalm 61, 4 z.B.) Gott begegnet mir ja als die Macht, die mich innerlich wärmt und anspornt, die mich herausfordert und befreit.

Wie Zuversicht und Geduld Hand in Hand gehen, zeigt sich auch auf ihrer vermeintlich passiven Seite, beim Warten. Tatsächlich gilt es in manchen Situationen, einfach anzuhalten und abzuwarten. Doch selbst dahinein mischt sich meist die ursprüngliche Bedeutung von Warten: Ausschau halten. Das tue ich, wenn ich an der Haltestelle stehe und auf den Bus warte. Und ich tue es, wenn ich inmitten all der schlimmen Nachrichten Ausschau halte nach einer guten.
In der Bibel hält einer intensiv Ausschau nach Gott und betet:

Ich harre des Ewigen. … Meine Seele wartet auf den Herrn, mehr als die Wächter auf den Morgen. (Psalm 130, 5+6)

Auf Gott warten mehr als die Nachtwache auf das Morgenrot – das ist ein poetischer und zugleich ganz klarer Ausdruck dafür, was Glauben unter anderem eben auch bedeutet; weil Gott unverfügbar ist und manchmal verborgen; weil Glaube kein Dauerkontakt ist. In Zeiten, in denen von Gott nichts zu spüren ist, kann ich nicht mehr tun als auf Gott warten. Möglichst beharrlich Ausschau halten ist dann alles, was von meinem Gottvertrauen übrigbleibt. Nicht viel also, aber nicht gering zu schätzen.

Dabei kann es etwas helfen zu wissen, ich bin nicht alleine damit; ich bin Teil einer Wartegemeinschaft. Und jetzt im Advent wäre ich damit gut aufgehoben.

Es gilt das gesprochene Wort.

Musik dieser Sendung:
1. O Heiland, reiß die Himmel auf – gesungen (Athesinus Consort Berlin)
2. O Heiland, reiß die Himmel auf – instrumental (Nils Landgren with Friends)

3. O Heiland, reiß die Himmel auf – gesungen (Athesinus Consort Berlin)
4. Quadro Nuevo, Nun komm, der Heiden Heiland
5. Christof Lauer & Norwegian Brass, Die Nacht ist vorgedrungen 
6. Acoustic Colours, Nun komm, der Heiden Heiland
7. SacreFleur, Die Nacht ist vorgedrungen  


Literatur / Zitate dieser Sendung:
1. Tagesspiegel, 11.11.2024, S. 18f.
2. Evangelisches Gesangbuch (EG) Nr. 7, Strophen 4+1
3. EG 7, aus den Strophen 1-5
4. Tagesspiegel, 26.10.2024, S. 5
5. Tagesspiegel, 5.10.2024, S. 16f.
6. Gabriele von Arnim, Liebe Enkel oder Die Kunst der Zuversicht (Briefe an die 
     kommenden Generationen, Band 3), Kjona Verlag, München 2024, S. 14
7. Gabriele von Arnim, S. 29f.
8. Gabriele von Arnim, S. 31
9. Gabriele von Arnim, S. 12f.