Gemeinfrei via unsplash/ Dan Kiefer
Weihnachtston
Was nachklingt und weiterwirkt
26.12.2021 07:05
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Manchmal ertappe ich mich dabei, dass ich ein Weihnachtslied vor mich hinsumme, irgendwann im Jahr, im August zum Beispiel. Und dabei bin ich auch schon mal ertappt worden. "Du weißt aber schon, dass das ein Weihnachtslied ist", sagt die junge Kollegin auf dem Gang. "Oh, stimmt." Aber für zwei, drei Stunden bleibt die Melodie trotzdem ein Ohrwurm und kehrt immer mal wieder in die Stimmbänder zurück. Es ist diese hier:

 

"God rest ye, merry gentlemen", Jethro Tull
 

Diese Version stammt von der englischen Band Jethro Tull. Ihr "Christmas Album" aus dem Jahr 2003 kommt bei mir nur an den wenigen Tagen rund um den Heiligabend zum Einsatz; am 23. Dezember immer, rituell zum Geschenkeeinpacken. Aber dieses Weihnachtslied taucht bei mir eben gerne auch mal im Sommer aus der Versenkung auf; und wird dann eine Zeit lang zum Ohrwurm.
Eine kleine Irritation, die dann aber ein schöner Hinweis sein kann. Die Botschaft von Weihnachten ist eine fürs ganze Jahr: Jesus ist geboren, Gott kommt hinein in die Welt, will unser menschliches Leben teilen, hautnah und herznah.
Das Fest selbst hat seine Zeit. Die ist eine bestimmte und abgegrenzte. Die Weihnachtsgeschichte spielt nur in diesen wenigen Tagen. Es wäre merkwürdig, im Mai in einer Kirche zu hören: "Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde…". Gar nicht merkwürdig ist es aber, im Mai in einer Gemäldegalerie vor einer Darstellung der Geburt Jesu zu stehen und sich von ihr berühren zu lassen. Die Bildwelt zieht mich in ihren Bann und beginnt in einem solchen Moment auch zu klingen.

 

In der Weihnachtsgeschichte selbst gibt es einen besonderen Moment, der das Geschehen öffnet und über die erzählte Gegenwart hinausweist. Nachdem die Hirten ausgebreitet haben, was der Engel ihnen über das Kind in der Krippe verkündigt hatte, heißt es da:

 

Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen. (Lukas 2, 19)

 

Die himmlischen Sätze über ihr Kind gehen mit ihr und wirken weiter. Man kann sich leicht vorstellen, wie Maria sie zeitlebens immer mal wieder Wort für Wort in ihrem Herzen bewegt. Auch als ihr bemerkenswerter Sohn längst erwachsen ist und sich aus ihrer mütterlichen Umarmung gelöst hat.
Wie das aussehen kann, wenn Worte lange nachklingen und weiterwirken, darüber hat die ostdeutsche Psychotherapeutin und Schriftstellerin Helga Schubert einen wunderbaren Text geschrieben. Er findet sich in ihrem Erzählband "Vom Aufstehen":

 

Manchmal, wenn ich ratlos war oder auch traurig, in mich gekehrt oder mutlos, las oder hörte ich plötzlich einen Satz, eine Gedichtzeile, einen Liedanfang, und ich spürte: Hier ist er ja wieder, der Strom von Einverstandensein, der doch immer da war und immer da ist und immer da sein wird, der mich mit Menschen verbindet, die schon seit Tausenden Jahren tot sind oder weit weg wohnen und andere Sprachen sprechen. Vielleicht hatte ich gerade auf einen solchen Satz gewartet. Dann schrieb ich ihn auf, als Beweis, als Unterstützung, als Hoffnung …
"Das Wenige, was du tun kannst, ist viel", war zum Beispiel solch ein Satz zwischen meinem 28. und 35. Lebensjahr. Ich hatte ihn in der Marienkirche am Berliner Alexanderplatz gelesen, neben der Kollekte ‚Brot für die Welt‘. Er stammte von Albert Schweitzer, war sicher ganz anders gemeint; aber er tröstete mich, wenn ich trotz weniger Stunden Schlaf mein Leben einfach nicht mustergültig schaffte: Tägliche volle Berufsarbeit, anfangs ja auch noch am Sonnabend, Hausarbeit mit Ofenheizung und ohne Waschmaschine, Verantwortung für einen heranwachsenden Sohn, das eigene Erwachsenwerden, Bücherlesen, Geschichten schreiben, der Versuch, sie zu veröffentlichen in einem kontrollierten Land, und die Liebe, manchmal mit großem Kummer. Das Wenige, was ich heute getan habe, ist vielleicht doch mehr als gar nichts, dachte ich dann. Es war ein Satz über die Zukunft: "Und ganz gewiss an jedem neuen Tag."   
(1)

 

Das Wenige kann viel bedeuten. Das Kleine wird großgeschrieben. Damit ist man mitten drin in der Weihnachtsgeschichte und berührt sozusagen das Herz von Weihnachten. Im Zentrum steht oder besser: liegt ein neugeborener Säugling in einem Futtertrog. Genau dieses Bild hatte der Engel den Hirten angekündigt als Zeichen von Gott.


Das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen.

 

Was man in den Lebenswelten der Bibel sonst so als göttliches Zeichen erlebt oder erwartet, sieht anders aus: Blitz und Donner, Feuer und Rauch, Wolken und Wind. Oder Trommeln, Trompeten und Posaunen. Stattdessen hier: Säuglingsgeschrei; oder auch ein ruhiges, schlafendes Neugeborenes. Unspektakulär, ärmlich, vielleicht erbärmlich. Offenbar sehen die Hirten das Ganze trotzdem als starkes Zeichen. Und wahrscheinlich verstehen sie gerade deshalb, was es bedeutet: Der Heiland, der Christus ist einer wie wir, ein Mensch aus Fleisch und Blut, einer von uns.
Es ist ein "Zeichen, dem widersprochen wird". Das wird der fromme alte Mann Simeon über das Kind Jesus sagen, vierzig Tage nach der Nacht der Geburt. Da gibt es wieder so einen besonderen Moment, der die erzählte Gegenwart aufmacht für zukünftige Erfahrungen. Josef und Maria sind mit ihrem kleinen Sohn nach Jerusalem gegangen, um ihn im Tempel "dem Herrn darzustellen", wie es heißt; um am heiligen Ort sein Leben Gott anzubefehlen, ihn einem Priester vorzustellen und die vorgesehenen Opfergaben zu bringen.

 

Dort treffen sie auf den hochbetagten Simeon. Der ist offenbar junggeblieben in seiner Hoffnung "auf den Trost Israels". Das ist ein anderer Name für den Messias und das neue Leben, das er bringen soll: Befreiung, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit für das Land, in dem sie leben; für die, die nach ihnen kommen; und für die Welt im Ganzen. In großer Freude nimmt Simeon den kleinen Jesus auf seine Arme und lobt Gott, dass er das noch erleben darf: Meine Augen haben deinen Heiland gesehen, den Retter, den Christus Gottes.
Simeon beglückwünscht und segnet die überraschten Eltern; und erweitert seine Segensworte dann um das, was er für ihre Zukunft voraussieht:

 

Siehe, dieser ist dazu bestimmt, dass viele in Israel fallen und viele aufstehen, und ist bestimmt zu einem Zeichen, dem widersprochen wird; … damit aus vielen Herzen die Gedanken offenbar werden. (Lukas 2, 34+35)

 

Auch diese Worte wird Maria sicher zeitlebens behalten und öfter in ihrem Herzen bewegen. Sie werden mit ihr gehen; und werden weiterwirken.
Bis hin zu mir, wenn ich mich frage, wie meine Gedanken aussehen – ob sie dem göttlichen Zeichen widersprechen, ob ich ihm widerspreche in meinem Herzen und in meiner Haltung. Ob ich wirklich hören und ermessen kann, was Martin Luther in seinem berühmten Weihnachtslied "Vom Himmel hoch" den Engel sagen beziehungsweise singen lässt:

 

"So merket nun das Zeichen recht: die Krippe, Windelein so schlecht, da findet ihr das Kind gelegt, das alle Welt erhält und trägt." (EG 24, 5)

 

"Der alle Welt erhält und trägt" ist ein starker Ausdruck für Gott und sein Tun. Wenn Martin Luther also dichtet "… da findet ihr das Kind gelegt, das alle Welt erhält und trägt", sagt er damit: Dieses Kind ist Gott; Gott wird Mensch, von Grund auf und von Anfang an; Gott kommt als Kind zur Welt, mitten unter uns und wie wir. Unzählige andere Lieder besingen und variieren diese Aussage; sie ist die Botschaft von Weihnachten.
Und in der Menschlichkeit Gottes spiegelt sich die Menschlichkeit des Menschen; und damit meine eigene. "Die Menschlichkeit des Menschen erscheint im Kind", sagt ein anderer Luther, der Theologe Henning Luther. Und er beschreibt mit schönen elementaren Worten, wie das aussieht, wenn im Kind die Menschlichkeit des Menschen erscheint:

 

Schwach-sein können – wird zur Stärke. Nicht immer schon wissen – sondern fragen können. Nicht leisten und besitzen müssen – sondern sich beschenken lassen können, annehmen können. Nicht sich behaupten müssen – sondern sich hingeben können. Nicht fertig sein, nicht erwachsen sein müssen, sondern werden können, wachsen können.          (2)

 

An Weihnachten ist die Chance sicher etwas größer als sonst, dass ich solche Worte wirklich höre; und dass sie nachklingen. Und im zweiten Jahr unter Coronabedingungen bin ich da wohl auf besondere Weise hellhörig und dünnhäutig.
Das bedeutet mehr Anstrengung; kann aber auch bedeuten mehr Empfänglichkeit: für die Botschaften und für die Zwischentöne, die jetzt in der Luft liegen.
Was wahrscheinlich auch im Blick auf die Weihnachtsbotschaft selbst gelten wird: Gott kommt als Kind zur Welt, mitten unter uns und wie wir. Offenbar hat es dem Schöpfer gefallen, seinen Himmel zu verlassen und seine Erde hautnah als Geschöpf zu erleben. Das heißt, alles erleben, was in der Menschenwelt möglich ist – wirklich alles: Gewalt und Zärtlichkeit, Verwundbarkeit und Heilung. Und im Anschluss an Henning Luthers Sätze über echte Menschlichkeit würde es sogar heißen: Gott lernt Schwach-sein können; fragen; sich beschenken lassen, annehmen können; sich hingeben können; werden können, wachsen. Das klingt ungewohnt, ist aber folgerichtig. Und für mich ist es vor allem stark: wahrhaftige göttliche Größe.
Weihnachten heißt dann: Gott erfindet sich neu.
 

Wo die Weihnachtsbotschaft nachklingt und weiterwirkt, haben elementare Sätze eine große Kraft – nicht nur im persönlichen Erleben, sondern auch im politischen Kontext, im öffentlichen Raum. "Wir alle sind Kinder Gottes" ist so ein Satz.
Die belarussische Aktivistin Volha Zalatar hat ihn gesagt in der kurzen Rede, die sie noch halten durfte am Ende des Gerichtsprozesses gegen sie. Im März war die 38-jährige verhaftet worden, als sie eins ihrer fünf Kinder zum Musikunterricht bringen wollte. Man hat sie der Gründung einer extremistischen Vereinigung bezichtigt sowie der Organisation von Protestaktionen. Volha Zalatar hatte Zusammenkünfte in ihrer Nachbarschaft organisiert und versucht, inhaftierte Mitglieder der Demokratiebewegung zu unterstützen. Dafür wurde sie am 3. Dezember in Minsk zu vier Jahren Gefängnis verurteilt; und "Gefängnis" bedeutet hier: Straflager. Umso stärker leuchten jetzt ihre letzten Worte in dem Gerichtsprozess, kurz vor der Urteilsverkündung:    

 

Ich bin hier, weil ich kein gleichgültiger Mensch bin. Ich bin hier, weil ich nach Gottes Testament lebe. Ich bin hier, weil ich eine Mutter bin, die ihre Kinder beschützen möchte. Als Mutter und Katholikin trete ich für die Würde des Menschen und für geistige Werte ein. Alle meine Handlungen und Äußerungen sind von Liebe zu den Menschen und von Abscheu gegen Lüge und Gewalt getragen. Wir alle sind Kinder Gottes. Jeder hat das Potential dazu, diese Welt dem Reich Gottes vergleichbar zu machen, wo die Liebe regiert. In Gottes Reich gibt es keinen Hass, keinen Neid, keine Lüge, keine Rache, keine Angst. Es zerreißt mir das Herz, weil das Maß des Hasses steigt, die Zahl der Verletzungen und Beleidigungen zunimmt. Es braucht Buße und gegenseitige Vergebung. Nur so kann die gesellschaftliche und politische Krise im Land gestoppt werden. … Gewöhnliche menschliche Handlungsweisen, Reaktionen und Gefühle werden kriminalisiert. In den Prozessunterlagen findet sich ein Foto von einem Plakat, auf dem "Frieden. Liebe. Freiheit." geschrieben steht. Ich unterschreibe jedes einzelne Wort. Ich möchte Frieden für mein Heimatland. Ich möchte, dass in meinem Land Liebe zu Gott und zu den Menschen herrscht. … [Übersetzung von Katharina Narbutovic]           (3)

 

In den Tagen rund um Weihnachten taucht manches wieder auf, das lange zurückliegt, das aber weiter mit diesem Fest verbunden bleibt. Das Erinnern ist intensiv, ist durchströmt von Licht und Atmosphäre, von Duft und Klang, von Musik. "Das Gewesene öffnet sich", schreibt der Schriftsteller und Dramatiker Botho Strauß, Jahrgang 1944, in seinem autobiografischen Buch "Herkunft". Darin erzählt er von einem Weihnachtsfest, als er zwölf oder dreizehn Jahre alt war:
 

Wann war’s? 1956,57? Ems zur Weihnacht, das langersehnte Geschenk: Zehnplattenwechsler, leider nicht Dual, sondern Perpetuum Ebner, und gleich ein paar Platten dazu, Elvis, Johnny Ray, Harry Belafonte, kleine mit 45er-Umdrehung, außerdem das Adagio aus Bruchs Violinkonzert, Lieblingsstück meines Vaters, mit seinem sehr, sehr süßen Strich im zweiten Satz, mir fortan unverbrüchlich mit dem Weihnachtssegen des Plattenspielers verbunden, und dazu diese besondere Freude am nächsten Morgen, dem ersten Weihnachtstag, das neue Teil zu begrüßen als mir zugehörig, es war kein Traum, es hatte die erste Nacht bei uns hinter sich, es war jetzt für immer da.      (4)


In meiner eigenen Erinnerung ist es ebenfalls der Erste Weihnachtstag, der mir da deutlich entgegenkommt – so, wie er in meiner Schwiegerfamilie über viele Jahre hinweg rituell begangen wurde mit einem großen Treffen: Verwandte aus drei bis vier Generationen, in wechselnder Besetzung über mehrere Räume verteilt, essen, reden miteinander und durcheinander, bescheren sich hin und her; und finden sich dann für eine gewisse Zeit zum Wunschliedersingen zusammen. Ein neueres Weihnachtslied aus dem Evangelischen Gesangbuch war immer mit dabei; mein Schwiegervater Dieter Trautwein hat es geschrieben. Es ist das zweite Weihnachtslied, das bei mir übers Jahr verteilt immer mal wieder auftaucht; und da summe ich dann nicht nur die Melodie, sondern singe tatsächlich alle fünf Strophen vor mich hin - die Botschaft von Weihnachten fürs ganze Jahr, für solche und andere Tage.

 

Weil Gott in tiefster Nacht erschienen,
     kann unsre Nacht nicht traurig sein.

Der immer schon uns nahe war,
     stellt sich als Mensch den Menschen dar.

Bist du der eignen Rätsel müd?
     Es kommt, der alles kennt und sieht.

Er sieht dein Leben unverhüllt,
     zeigt dir zugleich dein neues Bild.

Nimm an des Christus Freundlichkeit,
     trag seinen Frieden in die Zeit!

Schreckt dich der Menschen Widerstand,
     bleib ihnen dennoch zugewandt!

Weil Gott in tiefster Nacht erschienen,
     kann unsre Nacht nicht endlos sein.               
(EG 56)

 

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

 

 

Musik dieser Sendung:

 

  1. Jethro Tull, God rest ye, merry gentlemen
  2. Chilly Gonzales, God rest ye, merry gentlemen
  3. SacreFleur, Vom Himmel hoch
  4. Hans-Jürgen Hufeisen/ David Plüss, Vom Himmel hoch
  5. SacreFleur, Es ist ein Ros entsprungen
  6. Christof Lauer & Norwegian Brass, Es ist ein Ros entsprungen
  7. Reinhard Börner, Weil Gott in tiefster Nacht erschienen
     

Literaturangaben:

 

  1. Helga Schubert, Vom Aufstehen. Ein Leben in Geschichten, 6. Aufl., München 2021,
    S. 39f.
  2. Henning Luther, Frech achtet die Liebe das Kleine. Biblische Texte in Szene setzen.
    Spätmoderne Predigten, Stuttgart 1991, S. 25.
  3. Tagesspiegel, Freitag, 3. Dezember 2021 / Nr. 24 736, S. 25.
  4. Botho Strauß, Herkunft, München 2014, S. 67.