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Tagträume im Advent
Sich ausmalen, wie die Welt auch sein könnte
07.12.2024 06:35

Sich ein Leben vorstellen, in dem man die Arbeit in Ruhe schafft und Friede einkehrt in den Kriegsgebieten. Darf man so naiv träumen?

 
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Manchmal träume ich mich davon. Gemütlich bei einer Tasse Tee und Kerzenschein, wenn draußen der Wind pfeift und der Regen an die Fenster prasselt. Dann träume ich von einer anderen Welt, wo es die schlechten Nachrichten und die furchtbaren Bilder nicht mehr gibt: von Bomben auf Kiew, von Überflutungen in Spanien, von polternden Egos, die der Welt ihren Willen aufdrücken. Alles nicht mehr da. 
Oder draußen auf dem Weg zur Arbeit - da träume ich von einem Leben, wo ich alles in Ruhe schaffe, fröhlich nach Hause komme, herzlich empfangen werde und all die lästigen Aufgaben nicht mehr da sind. Und der blöde Streit von gestern auch nicht. 
Ich gönn’ sie mir, diese kleinen Fluchten. Tagträume, die mich in eine andere Welt führen. Dann sehe ich Bilder von dem, was ich mir wünsche und wonach ich mich sehne. Wann sonst, wenn nicht im Advent, soll man mal so unbescheiden träumen dürfen – erwarten, dass das Leben anders wird?
Ein Psalm, der in den Kirchen im Advent gelesen wird, kommt auch ziemlich unbescheiden daher. Hier träumt einer davon, "...dass Güte und Treue einander begegnen, Gerechtigkeit und Friede sich küssen; dass Treue auf der Erde wachse und Gerechtigkeit vom Himmel schaue". (Psalm 85,11f)
Das sind traumhafte Bilder. Weniger brauchen wir nicht zu erwarten, meint der Psalmbeter. Ein Leben, das heil wird in jeder Beziehung: gut, verlässlich, gerecht, friedvoll. 
Träum weiter, werden manche sagen, das Leben ist nicht so. Ich muss schließlich arbeiten und zusehen, dass ich über die Runden komme. Da sind die Eltern, die älter werden, und die Kinder, die noch zuhause wohnen. Irgendwer muss das ja alles schaffen. So erzählt es eine Freundin. Sie braucht eigentlich einen Job, der besser bezahlt ist. Oder irgendeine andere Entlastung. 
Und die Politik? Die ist mir viel zu kompliziert geworden, klagt ein Kollege abends bei einem Glas Wein. Alles steckt fest: Energiewende und Netzausbau, Bürgergeld und Mindestlohn, Migration und Außengrenzen. Frag einmal nach, geh ins Detail, schon merkst du: Einfache Lösungen gibt es nicht. 
Klar, so ist das Leben, denke ich. Das mag alles sein. Aber wenn ich nicht träume, wenn ich keine Idee mehr habe von einem Leben, wie es sein könnte, dann wird auch nichts anders. Dann ist niemand mehr gut zu sich und den anderen. Dann bleibt niemand mehr dran an einer Sache oder treu bei einem Menschen. Dann gibt es immer wieder welche, die sich ungerecht behandelt fühlen, und Friede bleibt ein Wort, das sich abnützt. 
Güte und Treue begegnen einander, Gerechtigkeit und Friede küssen sich... ich träum weiter.
Und ich frage mich: Bin ich überhaupt gemeint? Satt und gut gestellt, wie ich nun mal bin? Und meine Freundin, die über all ihre Aufgaben klagt und ihren schlecht bezahlten Job? Mein Kollege, der frustriert ist von der Politik? Wer unter uns darf eigentlich hoffen und worauf?
Dann denke ich wieder: Doch! Wenn das stimmt, dass Gott seinen Engel zu Maria, dieser einfachen Frau aus Nazareth, geschickt hat, um ihr zu sagen: Du wirst den Sohn Gottes gebären, wenn als Geburtstort der Stall in Bethlehem gut genug war, dann gilt das womöglich auch für mich. Dass ich hoffen darf. Dass ich mich empören darf. Dass ich träumen darf von Gerechtigkeit und Frieden, von Güte und Treue. Klar, irgendwann muss ich die verträumte Adventsstimmung verlassen, muss vom Sofa aufstehen und etwas tun. Nochmal genauer hinsehen im Wahlkampf: Wer hat welche Lösung wofür? Ein Weihnachtspäckchen packen für die Tafel. Meine alte Freundin zum Essen einladen.
Womöglich werde ich unterscheiden und sortieren: Wofür kann ich etwas tun und wofür werde ich beten, womit fange ich an und wobei brauche ich Geduld? Aber diese Hoffnung wird mich antreiben: dass Güte und Treue sich begegnen und Gerechtigkeit und Friede sich küssen. 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

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