Wenn alles vergeblich erscheint, ist das Neue längst im Gange. Wie im November 1989. Es beginnt klein. Das Neue wächst im Stillen, weil zwei, drei Leute es pflegen und gießen und plötzlich ist es da. Und dann ändern sich die Spielregeln und sogar Despoten können fallen. Pfarrer Conrad Krannich über kleine Biotope der Hoffnung - in seinem Wort zum Sonntag am 8.11. in der ARD
Sendetext lesen:
November 1989, ich war damals sechs Jahre alt. In meinem Kindergarten, oben, am Ende des Dorfes da sollten wir künftig Lieder singen wie "Wenn ich groß bin, dann gehe ich zur Volksarmee". Da empören sich unsere jungen Eltern: "Bitte nicht den Kleinsten schon diesen militaristischen Kram beibringen!" Dass die Familien sich das trauen, zeigt: Da passiert was im Novembergrau des Jahres 1989. Es liegt was in der Luft; Zeit, sich was zu trauen.
Als der Elternabend halb acht vorbei war, da hatte die Weltgeschichte die kleinen Alltagskämpfe längst überholt. Die Mauer war gefallen, die Grenze offen. So erzählt’s meine Mutter, damals junge Pfarrfrau in Brünn in Süd-Thüringen. Ich selbst erinnere mich vor allem an die endlosen Autoschlagen in den Tagen danach vor unserer Haustür. Und an Tränen erinnere ich mich, an viele Freudentränen. Man sieht seine Eltern nicht so oft weinen im Leben. – Alles unfassbar. Und auch kurios, in welchen Situationen die Weltgeschichte manchmal ins eigene Leben einbricht: Hier der Elternabend im Kindergarten – und in Berlin fällt die Mauer. Wahnsinn.
Am Ende ging‘s schnell. Seit Wochen lag die Veränderung in der Luft. Schon längst wehte irgendwie ein anderer Wind. Im Oktober hatte der Staat in den großen Städten noch Krankenhausstationen räumen und Leichensäcke bunkern lassen in Erwartung all der Toten bei den Demos. Im November versammeln sich Hunderttausende. Die Angst war noch da, aber niemand rechnete mehr damit, dass es in Leipzig ein Massaker wie auf dem Platz des himmlischen Friedens in Peking geben würde. Und die noch lange hinter der Gardine gestanden hatten und abgewartet hatten, selbst die tragen jetzt ihre Hoffnung und ihr eigenes kleines Licht durch die Straßen. Und die diesen Staat bis zum Ende zu verteidigen geschworen hatten, die wissen nun überhaupt nicht mehr, wofür eigentlich. – Der Angst-Dämon, der das Leben so eng gemacht hatte, der war zusammengeschnurrt wie so‘n oller Luftballon.
Ich erinnere mich daran in diesen Tagen. Es hilft. Überall in der Welt die große Frage: Was wird werden angesichts der Katastrophen, der alten, der neuen, der einfach nicht enden wollenden? Und dann dieser Monat: Der November hilft ja nun wirklich gar nicht gegen schwere Gedanken. Die Natur zieht sich zurück, und das Licht. Pogromgedenken. Und dann stehen auch noch Volkstrauertag und Totensonntag an. Was bleibt von all dem Guten und Schönen, wenn die Abgründe aufreißen?
"Wann ist es so weit? Wann wird’s besser?" Jesus wurde das oft gefragt; er hat gesagt: "Es hat längst begonnen. Nicht irgendwo da draußen müsst ihr suchen; nein, mitten unter euch, da beginnt die neue Zeit."
Ich glaube das. Dass ganz still schon etwas Neues wächst; es ist noch nicht da, aber schon nah. Es beginnt ganz klein. Mit zwei, drei Leuten. So wie damals die Friedensgebete in Plauen und Erfurt und Magdeburg.
Daran hat sich nichts geändert. Am Anfang sind es wenige und oft sehr junge Menschen. Die suchen in ihrer engen Welt andere, die wenigstens ein bisschen so ticken wie sie selbst. Und dann kratzen sie ihren kleinen Mut zusammen und tragen ihre Hoffnung auf die Straße und in die Parlamente, in die Vereine und die Kirchen. Vor allem hegen und pflegen sie im Kerzenschein miteinander ihren Wunsch nach Zukunft. Zusammen geht das gut. Und dann ist der Wunsch auf einmal groß und ändert die Spielregeln. Mauern fallen, Despoten danken ab. Es kann sich alles ändern, manchmal auch zum Guten.
Das ist mein persönlicher November-Trost, meine kleine Verheißung in all der Vergänglichkeit. Wenn alles vergeblich erscheint, da ist das Neue längst im Gange. Es beginnt zwischen dir und mir.