Einmal ein kritisches Wort öffentlich oder im Privaten geäußert, und schon folgt eine Welle von Aggressionen und Verunglimpfungen. Sofort wird mit härtesten Bandagen auf jemanden eingedroschen - bis hin zu Todesdrohungen. Dialog und Diskussion sind unmöglich. Manche ziehen sich angesichts des ununterbrochenen bewussten Falschverstehens entkräftigt zurück. Die dauernde Überflutung der Menschen mit Hass und Hetze hat schwere Auswirkungen auf die seelische Gesundheit. Pastorin Annette Behnken spricht in ihrem Wort zum Sonntag über das, was uns heilen kann.
Samstags um 17 Uhr können Sie an dieser Stelle den Sendetext lesen.
Vergiftung der Seelen
"Ich fühl's, wenn ich in der S-Bahn sitze und zur Arbeit fahre. Ich fühl's, wenn ich mich mit meinen Freundinnen in der Stadt auf nen Kaffee treffe. Wenn ich abends zu Hause erzähle, wie mein Tag war. Ich fühl's im Kino, beim Spazierengehen. Und jetzt, wenn ich zu Ihnen spreche. Und mich frage, ob sich's für Sie auch so anfühlt: Wie Gift. Das sich ausbreitet. Bis in den Alltag rein.
Wie bleibt man heile in einer Welt, in der gerade so viel kaputt geht? Wie bleib ich bei Sinnen, wenn so viel Irrsinn passiert? Wo ist das Gegenmittel?
Das Gift heißt Hass. Und Hetze. Und Lüge. Es entfaltet seine Wirkung mitten in der Gesellschaft. Da, wo Menschen, die sich einsetzen, für Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie so mit Hass zugeballert werden, dass sie es nicht mehr aushalten und sich zurückziehen. Es trifft Politiker und Aktivisten. Juristinnen. Journalistinnen. In jüngster Zeit besonders Frauen. Das Gift wirkt aber auch da, da, wo jüdische Künstler:innen ausgeladen werden. Ausgerechnet die, die das tun, was wir gerade jetzt so notwendig brauchen: Kunst, die Herzen weich und stark und den Geist klar und weit machen kann. Und das Gift wirkt weiter, wo ein rechtsradikaler Rassist verharmlost wird als ein Konservativer, der die Jugend begeistert habe. Und jetzt wird es noch absurder: allein, dass man sagt, was ist, führt zur Unterstellung, dass man eine Ermordung rechtfertigt. Das ist die totale Verdrehung.
Diabolos. Der Verdreher. So nennt die Bibel den Teufel. Die Antwort, die sie dagegen setzt heißt: Wahrhaftigkeit. Und: Liebe.
Es gibt viele, viele weitere Beispiele, die zeigen, wie verdreht, gelogen, inszeniert und instrumentalisiert wird. Und das macht was mit uns. Am Küchentisch, bei der Arbeit, beim Sport, abends auf dem Sofa. Es macht Angst. Zerbröselt unser Vertrauen. Verschiebt die Wahrnehmung. Und lähmt. Und macht uns als Gesellschaft zu einer lenkbaren Masse. Das ist gewollt. Und das darf nicht sein.
Es gibt einen Satz, der sich mir eingebrannt hat, aus einem Bekenntnis der Kirche, formuliert 1945: "Wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben." Formuliert auch in der Hoffnung, dass wir nie wieder im Rückblick sagen müssen - hätten wir doch. Wären wir doch. Mutiger gewesen. Hoffnungsvoller. Leidenschaftlicher.
Gott sei Dank gibt es viele Menschen, die sich leidenschaftlich einsetzen für Gerechtigkeit und Demokratie. In bewährten Initiativen und es entstehen auch neue Netzwerke und Gruppen. Wir brauchen solche Strukturen. Wir brauchen Strategien. Und wir brauchen das Miteinander. Das ist ein Gegengift gegen die Versuche, Hass und Spaltung zu verbreiten. Aber ich sehe auch die Erschöpfung in den Gesichtern derer, die sich einsetzen. Woher kommt die Kraft auf langer Strecke?
"Am Ende der Suche und der Frage nach Gott steht keine Antwort, sondern eine Umarmung" - hat die Theologin Dorothee Sölle gesagt. Wir brauchen uns, einander. Wir brauchen uns, um uns aufzufangen, wenn wir erschöpft sind. Um es miteinander zu teilen, wenn wir verletzlich und dünnhäutig sind. Diese weichen Seiten sind unsere Stärke. Und das Gegenteil von dem, was Hass und Hetze bewirken. Solidarität und Freundschaft. Wir brauchen einander, um zu spüren: niemand muss das alleine machen, wir sind zusammen laut und sichtbar für eine faire, demokratische, freie Gesellschaft. Und wenn eine nicht mehr kann, machen die anderen weiter. All das ist der Boden für das stärkste Gegenmittel. Und das heißt: Radikale Hoffnung. Trotz allem? Nein: Wegen allem. Um Gottes Willen. Um der Zukunft willen."