Viele Jahre hat man sich nicht mehr gesehen. Manche haben Schwierigkeiten, sich wiederzuerkennen. Schön, dass ein fröhlicher Anlass Verwandte und Freunde mal wieder zusammenführt. Und so tauscht man schon bald Erinnerungen aus, erkundigt sich nach Familienangehörigen, berichtet von schönen und traurigen Dingen, die man erlebt hat.
Doch die offene Atmosphäre ist schlagartig beendet, als einer der Gesprächsteilnehmer sichtlich erregt und so, dass es alle hören, feststellt: "Das darf nicht sein, sagt die Bibel. Das lässt Gott nicht zu." Damit reagiert er auf die Äußerung seiner Tischnachbarin, die gerade von der lesbischen Partnerschaft ihrer Tochter erzählt hat. Das anschließende Schweigen ist genauso unerträglich wie die Behauptung, die nun im Raum steht. Nicht dass es darauf keine Antworten gäbe. Gott sei Dank gibt es dann einige in der Runde, die deutlich ihre ganz andere Meinung kundtun. Aber die Stimmung ist dahin. Auch noch so überzeugende Gegenstimmen können den Unruhestifter nicht von seiner Position abbringen. Je mehr Gegenwind er zu spüren bekommt, desto mehr fühlt er sich berufen, mit erhobenem Zeigefinger den vermeintlichen Willen Gottes zu verkünden. Nichts zu machen: Er weiß genau, was richtig und was falsch ist. Mit einem Fanatiker kann man nicht reden. Die Gesprächspartner geben auf. Anderes Thema.
Befriedigend ist das keineswegs. Sieht es doch für manche so aus, als habe der Mann Recht mit der Bibel. Am liebsten würde ich ihm sagen, dass es dann wohl auch Gottes Wille sei, Töchter als Sklavinnen zu verkaufen oder seine Feinde abzuschlachten. Steht alles in der Bibel.
Wie engstirnig, das von Menschen geschriebene Wort der Bibel eins zu eins mit Gottes Wort gleichzusetzen! Dass es trotzdem immer wieder getan wird, ist zum Teil verständlich. Denn so hat die Welt ihre klare Ordnung und der eigene Lebensweg ein Halt bietendes Geländer. Verführerisch einfach, aber zugleich beklemmend eng, finde ich. Dann nämlich, wenn die eigene Lebensweise zum allgemeingültigen Maßstab erklärt wird. Da ist kein Platz für Andersdenkende und Anderslebende, für Zweifler und Suchende, für solche, die in Frage stellen und am Geländer vermeintlicher Gewissheiten rütteln.
Die Bibel ist für mich eine faszinierende Dokumentation, wie Menschen in unterschiedlichen Epochen und Lebenssituationen auf der Suche nach Gott sind und nach dem, was sein Wille sein könnte. Sie sind Suchende, Bittende und Hoffende, allenfalls Glaubende, aber nicht Bescheid-Wissende.