Predigt zum Nachlesen
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen.
Liebe Gemeinde, liebe Hörerinnen und Hörer am Radio!
Wie viel Hamlet steckt in jedem von uns?
Zugegeben: Hamlet reagiert wie ein Wahnsinniger. Damit will sich wohl kaum jemand vergleichen. Er wirkt beinahe wie einer dieser Selbstmordattentäter, die in ihrem Hass sich selbst und möglichst viele andere Menschen in den Tod reißen. – Und sich dabei im Recht wähnen, in einem Gottesrecht sogar.
Dennoch ist an Hamlet etwas Faszinierendes. Kaum jemand, der nicht diese tragische Gestalt kennt, die einen Totenkopf in der Hand hält und über Sein oder Nichtsein grübelt. Seine Leidenschaft, mit der er gegen das Unrecht kämpft und den Mord an seinem Vater rächen will, bewegt uns.
Vermutlich kennt das jeder Mensch: Dass man am Leben verzweifeln könnte wie Hamlet. Dass die Welt um einen herum zusammenstürzt und nichts mehr Sinn ergibt. Dass man fast irre wird vor Trauer, Schmerz und Kummer.
Das kann persönliche Gründe haben. Und es kann gesellschaftliche Gründe haben.
Der Tod eines geliebten Menschen kann uns so treffen, dass wir meinen, nicht mehr aus der Trauer herauszufinden. Dass wir nur noch um uns schlagen möchten.
„Wie kommt’s, dass stets noch Wolken um Sie hängen?“ – so fragt König Claudius den Hamlet.
Und so fragen wir manchmal, wenn wir meinen, dass einer womöglich in seiner Trauer steckenbleibt. Was wir an Hamlets Trauer beobachten können, zeigen auch Menschen heute: Selbsthass aus einem unerklärlichen Schuldgefühl heraus, den intensiven Wunsch, selbst aus dem Leben zu scheiden, und auch die Schuldzuweisung gegenüber anderen.
Es gibt Angehörige, die nach dem Tod eines Menschen Ärzte oder Schwestern und Pfleger mit wilden Anschuldigungen verklagen. Ein alleinstehender Mann, der zu seiner neunzigjährig verstorbenen Mutter ein enges Verhältnis hatte und sich mit ihrem Tod nicht abfinden konnte, verklagte schließlich das Pflegeheim – aus rechtlicher Sicht grundlos!
Hamlet quält sich: „ O Gott, wie öde, schal, flach, fad und überflüssig scheint mir all das Getu in dieser Welt.“
Das erleben viele Menschen ähnlich. Aber bei Hamlet kommt noch hinzu, dass er diejenigen, die nicht genauso trauern wie er selbst, verachtet, ja sogar hasst.
Hamlet schwelgt in seinem Zorn gegenüber der Mutter, die so schnell wieder geheiratet hat: „O Gott, ein Viech hätt mehr getrauert!“
Rachegedanken tauchen manchmal auch auf, wenn in uns ein Gefühl der Ohnmacht groß wird, gegenüber Behörden oder Institutionen, gegenüber der Politik.
Nach der Wahl zum Landtag in Baden-Württemberg im März diesen Jahres hat ein Politikstudent – entsetzt über den immensen Wahlerfolg der AFD, gerade auch hier in Pforzheim! – gemeint, zum Bürgerkrieg aufrufen zu müssen, um die Demokratie zu retten. Ich bin schon zusammengezuckt, als ich das hörte!
Hier hätte Hamlet seine berühmten Sätze sagen können: „O Schuft, lächelnder! Dass einer Lächeln kann und lächeln und ein Schuft doch sein!“ Dass böse Menschen sich mit Freundlichkeit maskieren, das erleben wir im Alltag sowieso – und eben auch in der Politik. Bei Hamlet mischt sich persönliches Unglück mit politischem Unrecht.
Die gruselige Szene, in der der Geist des toten Vaters erscheint und Rache fordert – als Beweis der Liebe seines Sohnes, kann einem schon kalte Schauer über den Rücken laufen lassen.
Und natürlich fragen wir uns heute: wie soll man das verstehen? Gibt es eine reale Geisterscheinung? Oder ist er wahnsinnig?
Der tote Vater jedenfalls lässt Hamlet nicht los – oder ist es umgekehrt? Hamlet lässt den toten Vater nicht los?
Und dann werden wir Zeuge einer selbstverordneten Gehirnwäsche: Alle bisherigen Werte werden ausgelöscht: „Aus der Tafel meines Angedenkens auswischen will ich alle Buchweisheit, alle Prägung der Jugend. – Nur dein Gebot ganz allein soll leben in meinem Hirn! Ja, beim Himmel! Ich hab’s geschworn!“
Hamlet identifiziert sich völlig mit dem Verstorbenen, was für sein Leben keinen Raum mehr lässt. „Rache!“
Dieser Gedanke nimmt ganz Besitz von ihm und zerstört am Ende viele andere mit ihm. Aus seinen Worten spricht Größenwahn. Hamlet hat seine Gefühle nicht mehr im Griff. Wahn und Rachegelüste treiben ihn am Ende in ein blutiges „Himmelfahrtskommando“, bei dem alle verlieren.
Welch ein Kontrast zur Himmelfahrt Christi, der seine Jünger, seine Freunde zurücklässt mit einer Geste des Segens!
Erst recht zeigt sich Hamlets Selbstüberschätzung, wenn er sagt: „ Die Zeit ist aus den Fugen. O Fluch des Schicksals, dass ich geboren wurd, sie einzurenken! Sein oder nicht sein – das ist die Frage! Ob es uns mehr adelt, das Schicksal zu dulden – oder das Schwert zu ziehen, selbst wenn man dadurch stirbt.“
Wir Christen haben je nach Zeit die eine oder die andere Seite betont! Zur Zeit der Christenverfolgung war es eine Tugend, Unrecht und sogar den Tod zu erdulden. Dagegen galt in der Zeit der Kreuzzüge das Schwert als richtige Wahl! Heute betont die christliche Kirche die Pflicht zum Frieden. Selig sind die Friedfertigen, wie Jesus sagt. Aber dennoch ist die Diskussion um den rechten Weg nie verstummt.
Was macht uns Menschen stark in Trauer, Kummer und Schmerz?
Die Geschichte von der Himmelfahrt Christi erleben ja Menschen, die in Trauer sind. Ich kann gut nachempfinden, dass die Jüngerinnen und Jünger Jesu nach seinem gewaltsamen Tod verstört und erschrocken sind. Sie können nicht einordnen, was das Ganze bedeuten soll – und das fällt uns ja heute noch schwer genug!
Warum musste Jesus so leiden? Er, der niemandem etwas Böses getan hat.
Genauso fragen wir, wenn heute einem lieben Menschen in unserer Nähe etwas Böses zustößt, ob nun Krankheit oder Unfall. Wir quälen uns wie die Menschen damals mit der Frage, wie es jetzt weitergehen soll.
In diese Notsituation hinein erzählt der Evangelist Lukas, dass Jesus plötzlich mitten unter den Jüngern erscheint! Alle erschrecken und meinen, einen Geist zu sehen – so wie Hamlet den Geist seines Vaters sieht.
Was erzählt uns dieses Bild? Es erzählt, wie jemandem, der tief trauert, zu helfen ist: Jesus spricht die Menschen an, er spricht ihren Kummer und ihre Betrübnis an, er lässt körperliche Nähe zu, und er isst mit den Jüngern. Er spricht über den Sinn des Ganzen – warum er sterben musste – und er spendet Trost: Er zeigt, wie das Leben weitergehen kann: Sie werden Hilfe bekommen.
„Siehe, ich will meinen Geist auf euch herabsenden. Ihr werdet ausgestattet werden mit Kraft aus der Höhe!“
Und dieser Geist will nicht, dass wir seinen Tod rächen. Er schenkt die Kraft, zu lieben wie Jesus das vorgelebt hat. Und Jesus segnet die Menschen in ihrer Trauer und Verzweiflung. Genau so beginnt etwas zu heilen: Wenn wir wieder etwas Boden unter den Füßen spüren. Wenn jemand zum ersten Mal wieder Appetit hat. Wenn ich zum ersten Mal wieder lache. Ich fürchte, Hamlet hat nicht mehr gelacht.
Ich denke dabei daran, wie wir als Pfarrerinnen und Pfarrer oftmals auf dem Friedhof stehen und dies unsere letzte Geste ist: der Segen über die Angehörigen, mit dem sie nun vom Grab weg zurück ins Leben gehen können. Jeden Tag ein wenig mehr.
So verstehe ich auch den Hinweis, den die Jünger erhalten: „Ihr Männer, was steht ihr da und seht zum Himmel? Schaut auf euch und die Menschen neben euch! Jesus weist euch zurück ins Leben!“
Was also macht Menschen stark in Trauer, Kummer und Schmerz? Was macht uns Mut, gegen Ungerechtigkeit aufzustehen und zu kämpfen, ohne uns dabei selbst in Unrecht zu verrennen? Welche Erfahrung oder innere Haltung befähigt uns dazu, Situationen auszuhalten, die uns schier unerträglich erscheinen?
Die Himmelfahrtsgeschichte zeigt einiges davon: Menschliche Nähe, einfühlsame Ansprache, Geborgenheit. Jesus konnte das spüren lassen. Und er traut uns anscheinend zu, dass wir in seine Spuren treten können.
Oft hilft auch, wenn wir das Gefühl haben, dass eine leidvolle Erfahrung im Großen und Ganzen irgendwie doch einen Sinn hat. Dass vielleicht selbst in einer schwierigen Lebenserfahrung etwas von Gottes Führung aufleuchtet. Das wäre dann ein Ausdruck dafür, dass Jesus Christus als König über alle Welt herrscht. Denn dann gibt es auch in meinem persönlichen Leben keinen Bereich mehr, in dem er nicht „König“ ist, also die Macht hat, etwas zu bewegen und zum Guten zu wenden. Das hilft mir persönlich, zuversichtlicher in die Zukunft zu gehen.
Was wäre gewesen, wenn jener verzweifelte und verwirrte Hamlet sich dieser Erfahrung hätte öffnen können? Wäre weniger Blut geflossen? Hätte Ophelia leben dürfen?
Aus der Himmelfahrtsgeschichte der Bibel nehme ich mit, dass Jesus, der an der Gewalt in dieser Welt zu Grunde ging, lebt und Leben schenkt. Und dass er uns segnet – gerade da, wo wir es am wenigsten vermuten.
Christi Himmelfahrt zeigt uns eine Alternative: wie Hamlet – und auch wir – in dieser aus den Fugen geratenen Welt trotz allem noch menschlich bleiben und menschlich handeln können.
Damit es am Ende durch uns immer mehr Himmel gibt auf Erden. Amen.