Kann mir bitte jemand das Wasser reichen?
Eine kurze Geschichte der Arroganz
13.08.2017 07:05
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Kann mir bitte jemand das Wasser reichen?

 

Wer so fragt – dazu in diesem überheblichen Ton – hat sich die Antwort längst selbst gegeben.

 

Natürlich nicht. Mir kann niemand das Wasser reichen.

 

Ich bin überzeugt, jeder Mensch findet solch eine überhebliche Art unangenehm. Und wünscht dem Überheblichen, dass er so schnell wie möglich runterkommt von seinem hohen Ross, mit Schwung auf seine vier Buchstaben fällt. "Hochmut kommt vor dem Fall", sagt ein deutsches Sprichwort. Und man weiß nicht, ob sich in diesem Sprichwort eher der sehnliche Wunsch ausdrückt: Warte nur, du wirst hoffentlich schon bald die Quittung bekommen. Oder ob sich darin eher die Erfahrung über Jahrhunderte verdichtet: Dem Hochmut folgte immer der Absturz.

 

Und obwohl so ziemlich jeder Hochmut unpassend und unangenehm findet, ist Hochmut eine Eigenschaft, die von Zeit zu Zeit so ziemlich jeden befällt. Wie kommt das? Was genau ist eigentlich Hochmut, Überheblichkeit? Das lateinische Wort ist Arroganz, wörtlich übersetzt: ohne Fragen. Arrogant ist jemand, der ohne Fragen ist, a-rogare. Jemand, der alles weiß – beziehungsweise der von sich denkt, alles zu wissen.

Der finnische Journalist Ari Turunen erzählt dazu eine Anekdote aus seiner Familie.

 

"Als ich mit sechzehn Jahren meinem Großvater verkündete, ich wisse ziemlich viel vom Leben, war es um seine Liebenswürdigkeit geschehen, und die Zurechtweisung kam so routiniert, wie sie nur ein ehemaliger Kaufmann, Kommunist und angesehener Vorsitzender der Anonymen Alkoholiker von Helsinki erteilen kann: Junge, du weißt überhaupt nichts vom Leben."

(aus: Ari Turunen "Kann mir bitte jemand das Wasser reichen? S. 7)

 

Arroganz ist keine Frage des Alters. Arroganz ist eine Fehleinschätzung, egal, in welchem Alter. Wie viele beurteilen ihre Mitmenschen nur aufgrund ihres Aussehens? Oder ihrer Sprechweise? Wie viele ziehen Schlüsse allein aus dem Beruf? Oder der Arbeitslosigkeit eines Menschen? Daraufhin setzen sie den anderen herab und sich selbst aufs hohe Ross. Sie selbst sehen schließlich glänzend aus – oder zumindest sind sie unwiderstehlich. Ihr eigener Beruf ist hervorragend gewählt und ihr Erfolg einzigartig. Und manche sind sich einfach grundsätzlich zu gut, andere zu grüßen.

 

 

Im ersten Jahrhundert nach Christus stellte Julius Sextus Frontinus, Politiker, Soldat und Ingenieur im alten Rom, fest, alle Erfindungen seien längst gemacht, es sei nichts Neues und Umwerfendes mehr zu erwarten. – Wer so redet, ist offenbar unerschütterlich von sich überzeugt: von seiner erstklassigen Urteilskraft und davon, dass er seine Meinung nie zu revidieren brauche. Bis an sein Lebensende weiß er, was guter Geschmack ist, die beste Ausbildung für die eigenen Kinder und die richtige politische Partei.

 

Beim Blättern durch die Geschichtsbücher und durch die mythologischen Erzählungen dieser Welt erkennt man: Arroganz folgt einem Schema: Es beginnt – oft noch harmlos – mit gesundem Selbstvertrauen. Das führt – auch noch unproblematisch – zu Erfolg. Gesundes Selbstvertrauen und Erfolg wachsen sich jedoch leicht zu krankhafter Überheblichkeit aus. Ari Turunen schreibt dazu in seinem Buch über Arroganz:

 

"Erfolg speist sich selbst, und viele lassen sich von der eigenen Person in den Bann ziehen, was häufig zur Katastrophe führt. Nach Ansicht der Antike gab es nichts Gefährlicheres als im Moment des Erfolgs der Hybris, das heißt der Arroganz anheimzufallen und sich für gottgleich zu halten. Dies war ein schamloser Glaube an sich selbst und Rücksichtlosigkeit gegenüber den eigenen Grenzen in einem Universum, über dessen Ordnung die Götter entschieden. Wer an Hybris erkrankt, glaubt sich zu allem fähig. Überschäumendes Selbstvertrauen verleitet ihn zu falschen Deutungen seiner Umwelt und zu Fehleinschätzungen. Schließlich begegnet er zu Recht der Nemesis, der Göttin der Rache." (Turunen, S. 15)

 

John Lennon von den Beatles von den Beatles zum Beispiel stieg der Erfolg zu Kopf. Auf dem Höhepunkt seiner Popularität erklärte er im Jahr 1966, der christliche Glaube könne einpacken. Das Christentum werde zerfallen und verschwinden. Die Zukunft werde seine Auffassung bestätigen. Zum Schluss sagte er: "Wir sind jetzt populärer als Jesus." Es folgte – heute würde man sagen – ein Shitstorm: Die amerikanischen Radiosender leiteten einen Boykott der Beatles-Songs ein, sie organisierten sogar Plattenverbrennungen. Es hagelte Morddrohungen gegen Lennon. Extreme Reaktionen und Rachegelüste! John Lennon entschuldigte sich, doch die Hassbriefe überfluteten ihn weiter. Bei einem Konzert in Boston mussten mehr als vierhundert Polizei- und Security-Kräfte die Beatles schützen. – Ari Turunen, der finnische Wissenschaftsjournalist, schreibt dazu.

 

"Lennon war ironisch veranlagt, aber seine Äußerung, die Beatles seien beliebter als Gott, ist ein anschauliches Beispiel für den totalen Mangel an Augenmaß, den Erfolg mit sich bringen kann. Dann macht man nur allzu leicht Schnitzer. Auch der finnische Verleger dieses Buches gab nach dem vierten Bier zu, dass er im Anschluss an ein paar Verkaufserfolge eine Reihe schlechter verlegerischer Entscheidungen traf. Für dieses Phänomen gibt es einen speziellen Begriff: Siegeskrankheit." (Turunen, S. 20)

 

 

Siegeskrankheit – wer von ihr befallen ist, bewältigt den Erfolg psychisch nicht, sondern ordnet ihn falsch ein. Erfolg steigt zu Kopf. Und das nicht nur sprichwörtlich, sondern ganz wörtlich. Wenn wir Erfolg haben, beginnt im Kopf ein chemischer Prozess. Da werden die Botenstoffe Dopamin und Serotonin ausgeschüttet. Sie verringern Hemmungen, Angstgefühle und Niedergeschlagenheit. Doch auch hier gibt es ein Zuviel des Guten. Ari Turunen zitiert in seinem Buch über Arroganz Studien, wonach die Anführer von Schimpansenhorden mehr Serotonin im Blut haben als die anderen Tiere. Besonders stark steigt ihr Serotonin-Spiegel, wenn viele der anderen sie bei ihrem Imponiergehabe beobachten. Ari Turunen schreibt im Blick auf siegeskranke Menschen:

 

Die Abhängigkeit von Serotonin und Dopamin ist allen gemeinsam, die im Vordergrund stehen oder das Leben anderer beeinflussen wollen. Der Verzicht auf die Macht ist für sie oft unmöglich.

Führende Persönlichkeiten, die eine Sucht nach den Botenstoffen entwickelt haben, sind machttrunken, und vielen fällt es schwer, in den Alltag zurückzukehren, wenn die Pensionierung ansteht: Das Bedürfnis, Einfluss zu nehmen, ist so groß, dass nicht wenige weiterhin einem Vorstand oder Aufsichtsrat angehören wollen oder wenigstens Leserbriefe verfassen, wenn ihnen keine anderen Mittel der Einflussnahme mehr bleiben. Auch an Enkelkindern haben sie keine Freude, wenn ihr Gehirn keine ausreichende Menge an Botenstoffen bekommt. (Turunen, S 25)

 

Das Problem, wenn zu viel Dopamin und Serotonin im Kopf sind, wenn also der Erfolg zu Kopf gestiegen ist: Man ist anfällig für Fehler. Der Begriff "Siegeskrankheit" wurde erstmals im Zweiten Weltkrieg verwendet. Für den amerikanischen Präsidenten Eisenhower war das Virus der Siegeskrankheit noch gefährlicher als der deutsche Gegner. Denn es machte den Patienten glauben, alles sei möglich. Auch die japanischen Machthaber sind diesem Virus zum Opfer gefallen, nachdem sie 1937 die Chinesen besiegt hatten. 1941 griffen sie in ihrem Siegestaumel Pearl Harbor an. Danach gewannen die Japaner gegen die Alliierten eine Schlacht nach der anderen im Pazifik und in Südostasien. Diese Siege ermutigten sie, ihr Sperrgebiet auszudehnen. Das stellte die Nachschubversorgung vor immer größere Herausforderungen. Die Siegeskrankheit erreichte ihren Höhepunkt ein Jahr später, 1942, in der Schlacht von Midway, Japan erlitt schwere Verluste. Auch zum kollektiven Krankheitsbild der Siegeskrankheit gehören systematische Überschätzung der eigenen Leistungsfähigkeit, erhöhte Risikotoleranz und Arroganz.

 

 

Jede Kultur, jede Religion warnt vor Arroganz. "Ein arroganter Soldat muss verlieren", sagen die Chinesen. "Gott widersteht den Hochmütigen, den Demütigen gibt er Gnade", sagt die Bibel, das Erfahrungsbuch der jüdischen und der christlichen Religion. Die ersten zwölf Kapitel der Bibel heißen Urgeschichte, darin stehen grundlegende Erkenntnisse über den Menschen, Urtypisches. Verpackt in Geschichten. Eine davon heißt: Der Turmbau zu Babel. Da geht es um Überheblichkeit – und was daraus werden kann.

 

Damals sprachen die Menschen noch eine einzige Sprache, die allen gemeinsam war. Als sie von Osten weiterzogen, fanden sie eine Talebene im Land Schinar. Dort ließen sie sich nieder und fassten einen Entschluss. »Los, wir formen und brennen Ziegelsteine!«, riefen sie einander zu. Die Ziegel wollten sie als Bausteine benutzen und Teer als Mörtel.

»Auf! Jetzt bauen wir uns eine Stadt mit einem Turm, dessen Spitze bis zum Himmel reicht«, schrien sie. »Das macht uns berühmt. Wir werden nicht über die ganze Erde zerstreut, sondern der Turm hält uns zusammen!« (1. Mose 11, 1-4)

 

Ein Turm, dessen Spitze bis zum Himmel reicht. Am Himmel kratzt – Skyscraper. Vor ein paar Jahren wurde der Versuch erneut gestartet: mit dem Burj Khalifa in Dubai, 828 m hoch. Hat funktioniert. Der Mensch will hoch hinaus, das wusste schon die Urgeschichte. Die Grundgeschichte. Ein Turm mit Spitze bis zum Himmel soll es werden. Kleiner geht‘s nicht.

Spitze bis zum Himmel heißt dann: Wir wollen ein Zeichen setzen: für Größe und für Macht. Weithin sichtbar für alle. Groß wie Gott und Macht bis in den Himmel, wir Menschen – gottgleich. Ein Menschheitstraum. Außerdem garantiert uns dieser "Turm bis in den Himmel" Erfolg und Zusammenhalt, Macht und Gottgleichheit bis in alle Ewigkeit. A winning team forever.

 

Ich war einmal im Pergamonmuseum in Berlin. Da konnte ich sehen: Drei Dinge wollen die Menschen: Schönheit, Macht, Unsterblichkeit. Die dort nachgebauten Metropolen der Vergangenheit waren ein Zeichen dieser Sehnsucht: das Babylon der Babylonier, das Assur der Assyrer, die Persepolis der Perser. Ihre uneinnehmbaren Stadtmauern zierten beeindruckend schöne Mosaiken. In jeder der Städte war ein hoher Turm gebaut und überall steinerne Löwen, ebenfalls Symbol der Macht. Und kaum hatte ein Machthaber einen Landstrich erobert, das dort lebende Volk besiegt, seinen Machthaber unterdrückt, sich selbst mit dem eigenen Volk eingenistet in diesem eroberten Land, eine große Stadt gebaut und einen hohen Turm, kam der nächste Machthaber mit seinem Volk, erst die Assyrer, dann die Babylonier, dann die Perser. Und immer dasselbe Spiel: andere klein machen, vernichten, sich selbst groß machen. Arroganz. Immer wieder ist es ein Spiel voller Maßlosigkeit und Fehleinschätzungen. Voller Leid und Unglück.

 

 

Wie ging es beim Turmbau zu Babel weiter? Diesem Turm, der bis in den Himmel reichen und die Menschen berühmt machen sollte? Die Bibel erzählt mit Humor, sogar leicht ironisch in ihrer Urgeschichte das Urtypische des Menschen: wie kläglich nämlich dieser Versuch scheitert.

 

Da kam der HERR vom Himmel herab, um sich die Stadt und das Bauwerk anzusehen, das sich die Menschen errichteten. Er sagte: »Seht nur! Sie sind ein einziges Volk mit einer gemeinsamen Sprache. Was sie gerade tun, ist erst der Anfang, denn durch ihren vereinten Willen wird ihnen von jetzt an jedes Vorhaben gelingen! So weit darf es nicht kommen! Wir werden hinuntersteigen und dafür sorgen, dass sie alle in verschiedenen Sprachen reden. Dann wird keiner mehr den anderen verstehen!«

So zerstreute der HERR die Menschen von diesem Ort über die ganze Erde; den Bau der Stadt mussten sie abbrechen. Darum wird die Stadt Babylon – Verwirrung – genannt, weil der HERR dort die Sprache der Menschheit verwirrte und sie in alle Himmelsrichtungen zerstreute. (1. Mose 11, 5-8)

 

Der Mensch will einen Turm bauen, der bis in den Himmel reicht. Gott aber muss aus dem Himmel herabsteigen, um diesen Turm überhaupt sehen zu können, so winzig ist er. Auf den ersten Blick könnte man denken: Gott reagiert aus lauter Angst vor Konkurrenz. Zu menschlich gedacht. Auf den zweiten Blick verstärkt sich der Eindruck: Gott schützt den Menschen vor sich selbst und vor dem ständigen Scheitern im Größenwahn. Denn eine riesige Lücke klafft zwischen erklärter Absicht des Menschen und der kläglichen Realität, die er hinkriegt.

Gottgleichheit, mit unbegrenzter Macht und ewigem Erfolg, das ist einfach eine Nummer zu groß für den Menschen. Schon im Ansatz gelingt es nicht, sagt die Urgeschichte.

In seiner Weitsicht hat Gott die zweifelhafte Erfolgsgeschichte unterbrochen, bevor sie immer so weitergeht, erzählt die Bibel. Denn da käme nur Unglück auf die Menschheit zu.

 

 

Interessanterweise ist Gott nicht gegen die Gottgleichheit des Menschen. Im Gegenteil. Ein paar Seiten vor dem Turmbau wird in der Urgeschichte erzählt, wie Gott die Welt geschaffen hat und in ihr die Menschen.

 

Dann sagte Gott: »Jetzt wollen wir den Menschen machen, unser Ebenbild, das uns ähnlich ist. Er soll über die ganze Erde verfügen: über die Tiere im Meer, am Himmel und auf der Erde.« So schuf Gott den Menschen als sein Abbild, ja, als Gottes Ebenbild; und er schuf sie als Mann und Frau. Er segnete sie. Schließlich betrachtete Gott alles, was er geschaffen hatte, und es war sehr gut! (1. Mose 1, 26. 27. 31)

 

Alles, was Gott geschaffen hat, gefiel ihm sehr gut! Aber, wie kann es gut bleiben, wenn der Mensch zu Maßlosigkeit neigt? Wie entkommt ein Mensch der Falle, arrogant zu sein, andere klein zu machen und sich selber groß? Arroganz und übrigens auch Rassismus haben dieselbe innere Grundhaltung, nämlich: das Gegenüber wird gering geschätzt, ohne je eine Begegnung oder ein Wort gewechselt zu haben. – Das könnte man sich einfach schon mal abgewöhnen.

 

Und sich dann auf zwei Dinge besinnen. Zunächst: Erfolg ist oft Glückssache, nicht zwingend das Ergebnis eigener Anstrengung. Wer die Bedeutung von Glück und Zufall nicht anerkennt, sondern die eigene Leistung überschätzt, ist in Gefahr. Ari Turunen erinnert gegen Ende seines Buches über die Arroganz an uralte Erkenntnisse:

 

Der Antike Philosoph Ariston von Chios schrieb schon vor mehr als 2200 Jahren, man könne sich von Überheblichkeit heilen, indem man sich unerwartete Glücksfälle in Erinnerung rufe. Da das Glück wechselt, müssen wir lernen, demütig zu sein,  wenn wir Grund zum Stolz haben. Und wir müssen lernen, uns Mut zu machen, wenn wir uns auf schwachem Boden befinden. (Turunen, S. 200)

 

Demut. Und Dankbarkeit, dass mir manches zufiel. Das zweite, um der Falle der Arroganz zu entkommen: sich besinnen: Gott hat den Menschen zu seinem Ebenbild geschaffen. Ich bin ein Ebenbild Gottes! Große Ehre. Die entlastet. Ich muss mich nicht selbst groß machen. Und muss niemand anderen klein machen. Darf niemanden klein machen. Jeder andere Mensch ist ein Ebenbild Gottes. Und kann mir ganz leicht – das Wasser reichen.