„Ich schaue verächtlich auf das Fußvolk herunter“
Mitten in einem Fernsehkrimi, Titel und Handlung habe ich längst vergessen, erwies sich eine nicht mehr ganz junge Dame als Wohltäterin. Sie wurde überschwänglich dafür gelobt. Die Dame aber antwortete: „Das ist nicht nötig. Ich setze mich eben auf das hohe Ross der moralischen Überlegenheit und schaue verächtlich auf das Fußvolk herunter.“ Damit bestätigte sie einen Verdacht, den ich schon lange hege: Viele gute Taten geschehen nicht, weil man etwas Gutes tun will, sondern weil es dem Wohltäter selbst guttut. Mittlerweile wissen das auch die Humanwissenschaftler. Sie sprechen von einem inneren Konto, auf dem Soll und Haben in ein Gleichgewicht gebracht werden müssen. Jede Handlung, die nicht den eigenen moralischen Maßstäben entspricht, bedarf eines Ausgleichs durch eine gute Tat, damit der Mensch sich wieder wohlfühlt. Und jede überverdienstliche gute Tat erfordert eine Gutschrift auf der Habenseite; der wird geschaffen durch das erhebende Gefühl, doch ein guter Mensch zu sein, oder durch die Bewunderung, die andere dem Täter entgegenbringen. Das heißt, dass die Meinung, eine gute Tat trage ihren Wert in sich selbst oder werde aus reiner Nächstenliebe getan, fragwürdig ist. Viele gute Taten dienen nicht dem, dem sie getan werden, sondern in erster Linie dem, der sie tut. Der Täter sorgt schon dafür, dass er seinen Lohn für die gute Tat erhält, indem er sich auf das hohe Ross des guten Menschen setzt.
Auch im Neuen Testament wird diese Neigung des Menschen durchaus gesehen und kritisch gewürdigt. In der Bergpredigt nimmt Jesus sich Zeitgenossen vor, die für ihre guten Taten belohnt werden wollen. Dabei ist Jesus so realistisch, dass er den Gedanken an den Lohn durchaus nicht kritisiert. Seine Kritik richtet sich vielmehr darauf, dass der Lohn schon hier und jetzt erwartet wird. Er beobachtet Leute, die für die Armen spenden. Und er macht die wenig erstaunliche Entdeckung, dass die Spenden in aller Öffentlichkeit gegeben werden, und zwar so, dass die Umstehenden sehen, wie großzügig der Spender sich gibt. Er hat sich auf das hohe Ross der Spendenfreudigkeit gesetzt und lächelt huldvoll seinen Bewunderern zu. Jesus sagt, dass der Wohltäter seinen Lohn darin erhält und in der Endabrechnung vor dem Thron Gottes nichts mehr zu erwarten hat. Jesus beobachtet andere Zeitgenossen, die mit niedergeschlagenen Augen und ungekämmten Haaren durch die Gegend laufen: Asketen, die auf dem hohen Ross der Enthaltsamkeit sitzen und dort den Beifall der weniger Frommen erwarten. Auch sie bekommen dadurch ihren Lohn schon hier und jetzt und gehen vor dem Thron Gottes leer aus. Dabei ist für Jesus nicht entscheidend, dass die Leute hier und jetzt über die Täter der guten Taten Gutes denken. Es zählt nur das, was vor den Augen Gottes Bestand hat; und das ist nicht das, wofür man sich hier und heute bereits auf das hohe Ross gesetzt hat.
Gute Taten müssen nicht belohnt werden
Diese Gedanken sind den meisten Menschen heutzutage allerdings fremd. Denn sie sind nur dann verstehbar, wenn man an eine Abrechnung nach dem Tode glaubt. Wenn mit dem Tod alles aus ist, wie die meisten Menschen glauben, muss das alles hier und jetzt geschehen: die gute Tat und der Lohn dafür, die anständige Handlung und der Sitz auf dem hohen Ross.
Den eigentlichen Gewinn aber hat der Täter einer guten Tat dann, wenn er dabei sich selbst vergessen kann und das hohe Ross der moralischen Überlegenheit noch nicht einmal von Ferne wiehern hört. Dann nämlich erfüllt sich ein wesentliches Merkmal des Menschseins: dass man erst dann wirklich menschlich lebt, wenn man sich selbst verliert und sich wiederfindet im Dasein füreinander und miteinander. Die Bibel nennt das Liebe. In dieser Nächstenliebe kommt es dann oft auch zur Begegnung mit Gott. Das ist dann der eigentliche Lohn. Und der sei jedem gegönnt, der eine wirklich gute Tat tut.