Die Sendung zum Nachlesen:
Ich interessiere mich für Bilder. Für Bilder, die mit Ölfarben gemalt sind. Gern gehe ich über den Flohmarkt oder stöbere im Internet und schaue mir Ölgemälde an.
Ein Motiv ist dabei häufig zu finden. Es ist der röhrende Hirsch. Viele röhrende Hirsche in Öl werden angeboten. Irgendwie will die niemand mehr haben. Der Hirsch scheint aus der Mode gekommen zu sein, mich aber spricht er irgendwie an. Nicht, weil der Hirsch ein besonders hübsches Motiv darstellen würde, sondern weil er mich erinnert:
Ich denke an Psalm 42. Das ist der Psalm mit dem Hirsch. "Wie der Hirsch lechzt nach fri-schem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu dir." In mir steigt Ruhr-Pott Nostalgie auf. Da thront er, der röhrende Hirsch im goldenen Stuckrahmen über dem Sofa neben der Wohnwand aus Gelsenkirchener Barock. Auf dem Sofa kleine Kissen, mit der Handkante liebevoll in Form gehackt, genau in der Mitte. Behaglich und geruhsam fühlt sich das an.
Psalm 42. "Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu dir." Das ist gar nicht behaglich. Ich denke an einen existentiellen, seelenzerreißenden Durst. Ich stelle mir vor, wie einer weint, wie er aufheult, weil ihm die Seele weh tut. Wer so Durst hat, der würde alles dafür geben, jetzt etwas zu trinken. Wer sich so nach Gott sehnt, der denkt daran, wie es einmal anders war, als das Leben noch gesegnet schien. Aber nun: Dürre, Kargheit, Gottesschweigen.
Psalm 42. Gott schweigt. Und als die eine sich nach Gott sehnt, weint, sucht und schreit, da kommen schon die anderen, die sagen: Wo ist nun dein Gott? Wo ist er denn?
So fragt man Christen seit Anbeginn – zweifelnd und zynisch. Wer glaubt schon an Gott? Schau dich doch um: Tod und Krankheit, Armut und Krieg, auch Mut und Macht – das alles sieht man. Aber wo ist dein Gott?
Psalm 42. In das Gottesschweigen setzt der Beter des Psalms sein Gottvertrauen. Zärtlich re-det er auf sich selbst ein wie auf ein altes krankes Pferd. Er hält den Kopf trotzig erhoben und spricht zu sich selbst: "Was betrübst du dich meine Seele und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott."
Allein ist die Beterin also nicht. Sie ist nicht wie der einsame Hirsch, in Ölfarben erstarrt über dem Sofa. Dem klagenden Menschen gegenüber ist immer noch Gott. Gott wird die Klage gesungen. Gott wird die Frage gestellt: Wo bist du?
Psalm 42. In der Dürre und in der Kargheit erklingt das Gottvertrauen: "Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken, dass er meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist." Was für ein prächtiger Trotz. Der Beter weint und fleht, aber er schwört nicht ab, er lässt Gott nicht fal-len.
So trotzig will ich auch sein. Trotzig gegen die Zweifel, trotzig gegen das Gottesschweigen. Ausharren können will ich, wenn Dürre herrscht. In der Hilflosigkeit will auch ich schon die Hilfe Gottes kommen sehen.
Und ich denke zurück an den röhrenden Hirsch in Öl, über dem Sofa mit den sorgfältig genau in der Mitte gehackten Kissen. Das Maul weit geöffnet thront der röhrende Hirsch starr dar-über. Schade, dass er stumm ist, denke ich.
Und zu mir selbst sage ich:
Du, meine Seele, rufe weiter nach Gott, denn Gott kann dich hören.
Es gilt das gesprochene Wort.