Pandemische Reformation

Zwei Hände mit Gummihandschuhen

Gemeinfrei via unsplash/ Filip Filkovic Philatz

Pandemische Reformation
Wer glauben will, muss zweifeln
25.10.2020 - 08:35
23.10.2020
Arnd Brummer
Über die Sendung:

 "Am Sonntagmorgen" im Deutschlandfunk zum Nachhören und Nachlesen

 
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Ob es irgendwann wieder einen Radio-Beitrag gibt, der sich nicht mit Corona, der Pandemie und ihren Auswirkungen beschäftigt? Rund um die Uhr werden in allen Medien neueste Zahlen, Durchschnittswerte, Reisewarnungen und von den Regierungen ausgewählte Risikogebiete vermeldet. In Gesprächsrunden und Talkshows debattieren Virologen, Gesundheitspolitiker und andere Experten seit Monaten kaum noch über andere Themen. Und wenn in vierzehn Tagen die Wahl des US-Präsidenten stattfindet, wird das Virus nach Donald Trumps Infektion wiederum zentrales Thema sein. Wie hat sein Verhalten, seine Ansteckung und sein Umgang damit das Ergebnis beeinflusst? Unterscheiden sich die Wahlergebnisse in den amerikanischen Bundesstaaten analog zum jeweiligen Infektionsgrad?

 

Das Thema erscheint so pandemisch wie das Virus selbst. Sogar am Sonntagmorgen. Alle sind davon betroffen. Nicht nur in abstrakter Weise, sondern ganz konkret. Persönlich!

„Sie sind positiv!“ Als mir vor ein paar Monaten jemand vom Gesundheitsamt dies telefonisch verkündete, wusste ich, dass dies nicht als Kompliment zu verstehen war. Im Gegenteil. Und die Aufforderung „Sieh doch nicht alles negativ“ gilt heutzutage nicht mehr als Trostwort für Pessimisten, sondern als Warnung davor, die Ausbreitung des Covid-19-Virus zu unterschätzen.

Dass mich die Gastgeberin auf einer fröhlichen Geburtstagsfeier bei meiner Gratulation infiziert hatte, erwies sich gesundheitlich nicht als besonders beeinträchtigend. Gott sei Dank! Viel schlimmer war die Verurteilung zu 14 Tagen Einzelhaft in meiner Wohnung, die „Quarantäne“ hieß. Was ich zunächst für eine rein persönliche Beeinträchtigung hielt, erwies sich rasch als tiefgreifende Veränderung der alltäglichen Kultur. Fast alles wurde zertrümmert, gestört oder zumindest in Frage gestellt, was im Umgang miteinander bis dahin als selbstverständlich galt. Dieser tiefe Einschnitt in mein Dasein hat mich erschüttert. Und die Erfahrung, dass dies nicht meine Privatsache ist, sondern nahezu die gesamte Menschheit trifft, lässt mich von einer pandemischen Reformation sprechen.

 

Pandemische Reformation – was soll das heißen? Nicht das Virus selbst nenne ich so, sondern die gemeinsame Suche nach dem richtigen Weg bei seiner Bekämpfung. Wenn ich meine maskierten Nachbarn in der Bäckerei oder im Supermarkt treffe, erkenne ich nicht alle sofort. Die meisten jedoch sind für mich nach ein paar Augenblicken zu identifizieren. Und ich für sie. „Deine Schuhe“, kicherte die nette Leni, „sind so seltsam. Aber daran habe ich sofort gemerkt, dass du es bist. An deinen Haaren nicht. Warst du beim Friseur?“ Ja, war ich.

Da ein älterer Käufer, drei Meter vor uns, heftig mit der Bäckerin darüber stritt, ob die Brötchentüte eine „Schmier-Infektion“ auslösen könne, konnten wir ein wenig miteinander plaudern. Über das Arbeiten im Home-Office hatte sich Leni zunächst gefreut. Doch inzwischen geht ihr auf die Nerven, dass sie mit keinem Kollegen mal zwischendurch ganz privat reden oder ein nettes Witzchen von ihm hören kann. „Wie lange können wir das noch ertragen?“, fragte sie. Und dann wollte sie wissen, wie ich den ständigen Streit zwischen Landesregierungen und dem Bund über Regeln, Verbote und Gebote aushalten würde. Ihr falle das echt schwer. Am schlimmsten fände sie, dass manche Leute in den Talkshows „heute das Gegenteil vom dem fordern, was sie gestern für absolut richtig erklärt hatten“.

 

Ich selbst halte die öffentlichen Debatten über Masken, Sperrstunden und allerlei Umgangsregeln für einen Gewinn. Zahlen, Daten und Fakten sind keine Zauberstäbe, mit denen man die Magie der Wahrheit verwirklichen kann. Sie sind lediglich Anhaltspunkte. Und der Streit darüber, wie sie zu bewerten sind, ist gerade im christlichen Sinne eine unausweichliche Notwendigkeit. Und ein Kennzeichen von Reformation, die – im Gegensatz zu einer Revolution – ein Geschehen in andauernder Bewegung ist.

Menschliche Existenz in dieser Welt ist im Sinne Jesu Christi keine von göttlicher Allwissenheit. Streit, der gewaltfreie Austausch verschiedener Wahrnehmungen und Erkenntnisse, gerade auch gegensätzlicher, und das Beschreiten unterschiedlicher Wege sind letztlich die bestmögliche Form von Gemeinschaft. „Lasset die Geister auf einander prallen, aber die Fäuste haltet stille“, kommentierte dies Martin Luther.

 

Als Vorschläge, im besten Sinne als Gebote nehme ich deshalb auch die Ideen zur Bewältigung der Pandemie wahr. Der persönliche Umgang der Menschen miteinander kann nicht mit Bußgeldern, Reise- oder Beherbergungsverboten gestaltet werden. Viel wichtiger ist es, wenn Virologen und politische Repräsentanten stattdessen die Bürgerinnen und Bürger dazu ermutigen, sich im täglichen Leben vorsichtig und rücksichtsvoll zu verhalten. Eine Zu-Mutung im besten Sinne: Lieber einmal zuviel maskiert sein und damit ein Zeichen geben, statt den Nächsten gedanken- und verantwortungslos einfach anzuhusten.

Statt Regel-Verletzende zu beschimpfen, können verantwortungsbewusste Eltern und Nachbarn freundlich ermuntern, im Sinne des Gebotes „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ zu handeln. Ich selbst halte wenig von der Dauer-Maskerade auf Marktplätzen, in Gottesdiensten und Konzerten. Dass ich dennoch Mund und Nasenlöcher verstecke, soll helfen, andere angstfrei und entspannt durchatmen zu lassen.

 

Die Entscheidung, wann und wie Regeln zu gelten haben, bleibt auch in Corona-Zeiten eine Sache der menschlichen Praxis und nicht der behördlichen Theorie. So gehen zum Beispiel die Leitenden von Alten- und Pflegeheimen höchst unterschiedlich mit ihren Vorschriften um. In manchen Häusern dürfen nicht mal Kinder und Enkel die einsamen Omis und Opis besuchen. Wer nicht mit den Insassen verwandt ist, muss fast überall draußen bleiben. Hannelore, eine ältere Dame, die ich gut kenne, kümmert sich seit Jahren um ihre kranke Freundin Else. Beide sind weit über achtzig Jahre alt.

Fast täglich schaut Hannelore im Pflegeheim vorbei, in dem Else seit etwa drei Jahren lebt. Als in der Stadt im Mai ein Besuchsverbot für alle nicht eng Verwandten in den Heimen beschlossen wurde, ließ sich Hannelore davon nicht bremsen und machte sich trotzdem auf den Weg zu Else. An der Pforte hielt sie eine Pflegekraft an und teilte ihr mit, dass sie ja eigentlich nicht zu Else dürfe und umdrehen müsse. Doch ihre Chefin und die Kolleginnen wüssten ja, wie eng und herzlich ihre Beziehung zu Hannelore sei. Und deshalb hätten sie beschlossen, sie als Elses Schwester zu sehen und einzulassen.

Wenn Regeln und Liebe aufeinanderprallen, müssen im Zweifel die Regeln gebrochen werden und nicht die Liebe. Darüber zu reden und – ja, nochmal gesagt – auch zu streiten ist in einer Gemeinschaft der Freien und Gleichen der richtige Weg. Nicht ‚jeder für sich und Gott gegen alle‘, sondern: gemeinsam Gefahren widerstehen. Und es wäre ganz im Sinne dessen, was der Apostel Paulus in seinem Brief an die Korinther schreibt:

„Die Liebe hört niemals auf. Prophetische Eingebungen werden aufhören. Das Reden in fremden Sprachen wird verstummen. Die Erkenntnis wird ein Ende finden. Denn was wir erkennen, sind nur Bruchstücke, und was wir als Propheten sagen, sind nur Bruchstücke. Wenn aber das Endgültige kommt, vergehen die Bruchstücke.“

 

Ich habe mir die Covid-19-Pandemie so wenig gewünscht wie alle anderen. Sie fiel wie ein Stein in den Teich eines frohen und kulturell offenen Lebens. Doch ihre Wellen machen aus dem manchmal müden und oft stillen Gewässer einen Ort der Aufmerksamkeit. Selten habe ich mit so vielen Leuten persönlich so intensiv über unsere alltägliche Lebensweise geredet. Unendlich viel, was bis dahin als selbstverständlich und – ja! – als langweilig galt, wurde den meisten wie auch mir zum Anlass, dessen Wertigkeit neu zu begreifen.

Im Gottesdienst, im Sportstadion, in Konzerten und Kinos eng neben einander zu sitzen, ist keine Strafe, sondern ein Gewinn. Geburtstag in froher Runde zu feiern und die Gratulationen der Gäste sind keine langweiligen Selbstverständlichkeiten. Sie werden gerade in Krisenzeiten als Dank und Ermutigung wahrgenommen.

Auf große Abendessen mit zahlreichen Tischnachbarn zu verzichten, zwingt mich, gezielt einige wenige einzuladen. Statt zwanzig Gäste an einem Abend, zehnmal zwei. Mit allen ausführlich und intensiv plaudern sowie ihnen bei einem ganz persönlichen Prosit in die Augen schauen.

 

Aus Krisen kann man lernen, muss man aber nicht. Manche Schwestern und Brüder gehen mit der neuen Lage achselzuckend um und murmeln: Das ist halt so. Und es wird wieder so werden wie es einmal war. Gelassenheit in schwierigen Zeiten ist keine Sünde. Im Gegenteil. Man kann sie durchaus als ein Symbol christlicher Zuversicht ansehen. Ohne sie hat keine Reformation eine Chance. Am Bodensee aufgewachsen durfte ich als Kind mit meiner Oma häufig das von ihr geschätzte Benediktinerkloster Einsiedeln besuchen.  Dort lebte einst der seliggesprochene Bruder Meinrad Eugster.

Und gerade während der pandemischen Reformation geht mir immer wieder sein von Mutter und Großmutter häufig zitierter Satz durch den Kopf: „O habet nur Geduld. Es geht alles vorbei, nur die Ewigkeit nicht.“ Auch bei den anstrengend monothematischen Talkshows stärkt das Eugster-Zitat meine Geduld. Und oft genug schleicht dann auch noch Karl Valentins kluge Botschaft in meine Gedanken und setzt sich daneben: „Es ist schon alles gesagt, nur noch nicht von allen.“ Das allerdings ist vielleicht gerade jetzt wichtiger denn je, in einer solchen pandemischen Reformation.

Am kommenden Samstag jährt sich der Tag, an dem Martin Luther 1517 seine 95 Thesen in Wittenberg an die Kirchentür nagelte - der Reformationstag. Ein wichtiger, wenn nicht der wichtigste Anlass für Luthers Aktivität war der sogenannte Ablasshandel, bei dem man sich mit einer Geldspende an die Kirche von seinen Sünden freikaufen konnte. Dem Dominikanermönch Johann Tetzel, Luthers Widersacher, wird der Satz zugeschrieben: „Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt!“

Die pandemische Reformation zeigt, dass man sich so wenig von Infekten freikaufen kann wie von Schuld. Die Hoffnung all jener, die glauben, man müsse nur genügend Geld in die Pharma-Industrie stopfen, um schnell einen Impfstoff zu gewinnen, bis jetzt hat sie sich noch nicht erfüllt. Auch hier ist Geduld geboten. Wissenschaftler sind keine Automaten.

Pandemische Reformation. Auf die eine oder andere Art sind alle von ihr betroffen. Von den komplizierten Ge- und Verboten genau wie, zunehmend, vom Virus selbst. Selten sind die Rollen von Betroffenen und Akteuren so dicht beieinander wie in dieser Pandemie. Das, finde ich, bringt einander näher als Abstands- und Maskengebot vermuten lassen. Gemeinsam den richtigen Weg zu suchen und darum zu streiten – Geduld und Liebe scheinen mir gute und christliche Ratschläge dafür zu sein. Bessere jedenfalls, als Masken und Regeln allein es derzeit vermögen. Ohne Geduld und Liebe baumeln die Masken so nutzlos am Ohr wie das Geld vor Luthers Zeiten im Kasten der Ablassprediger klingt.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:

 

  1. Keith Jarret, Part VII, Keith Jarret – Munich 2006
  2. Nicolas Martin, A Million Miles Away, Nicolas Martin – Inner String Quartet (Suas 5)
  3. Nicolas Martin, Atlas, Nicoas Martin – Inner String Quartet (Suas 5)
  4. Nicolas Martin, Patchwork, Nicolas Martin – Inner Strong Quartet (Suas 5)
  5. Nicolas Martin, Patchwork, Nicolas Martin – Inner Strong Quartet (Suas 5)

 

 

 

 

23.10.2020
Arnd Brummer