Und.

Gemeinfrei via unsplash / TJ Arnold

Und.
Ein Hoch auf die Gleichzeitigkeit
03.03.2024 - 08:35
22.02.2024
Susanne Niemeyer

von Susanne Niemeyer

Über die Sendung:

Menschen packen sich gegenseitig gern in die Kategorien „entweder – oder“: Entweder du bist so oder so. Das eine schließt das andere aus. Dabei gibt es doch das wunderbare Wort „und“!   

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Der Josef trägt ein Prinzessinnenkleid. Ist der etwa ein Mädchen oder was soll das? Der Vater hat’s ihm geschenkt, aber uns hat er keins geschenkt. Wollen wir auch gar nicht, wer will denn schon sowas, wir haben doch die Hosen an. Aber ärgern tun wir uns trotzdem. Aus Prinzip.“

Der Josef trägt ein Prinzessinnenkleid. Der Josef ist 17 und ein Träumer. Der Josef ist besonders. Josefs Vater ist Jakob. So steht es in der Bibel. Jakob hat 13 Kinder von vier Frauen. Das war damals ganz normal, kein Grund sich aufzuregen. Nicht normal war das Kleid. Das hat Josef in Schwierigkeiten gebracht. Es ist nämlich kein orientalisches Gewand gemeint, kein bunter Überrock, sondern ein Trägerkleid. Nix für echte Männer. Im hebräischen Urtext steht ein Wort, das nur im Zusammenhang mit Prinzessinnen benutzt wird. Der Josef trägt also ein Mädchenkleid, vom Vater höchstpersönlich abgesegnet. „Schau“, hat der gesagt, „für dich. Denk immer daran: Du kannst sein, was du willst.“

Die anderen lachen, wenn sie Josef sehen, aber ihr Lachen ist nicht freundlich. „Josefine, doofe Trine“, rufen sie. „Seht nur“, rufen sie, „Papas Prinzessin!“ Ruben ruft, Simeon ruft, Levi, Naftali, sogar Benjamin, der kleine Benjamin. Alle rufen. Josef erkennt sie kaum wieder, so verzerrt sind ihre Gesichter, und ihre Stimmen tun weh. Am liebsten würde er sich verstecken, aber der Vater sagt: „Geh, es sind deine Brüder. Sie meinen es nicht so. Erzähl ihnen von deinen Träumen. Träume sind wichtig.“

Also erzählt Josef: „Ich träume von der Sonne und vom Mond, ich träume, dass elf Sterne sich um mich ringen und sich verneigen. Und keiner ruft doofe Trine, sondern ihr Licht lässt mich glänzen, und mir wird ganz warm ums Herz.“

„Du hast doch wohl nen Vogel“, pöbelt Simeon, „sollen wir uns jetzt etwa auch noch vor dir verneigen?“ Und auch der Vater sagt: „Na, na…“, aber er sieht Josef gleichzeitig mit so einem Blick an, als wollte er sich alles ganz genau merken. „Josef ist ein Träumer“, sagt er, „und das ist gut so.“

Jakob liebt Josef ganz besonders. Weil er der Sohn seines Alters ist. Als Josef am nächsten Tag nach seinen Brüdern sehen soll – und das ist so eine Sache, immer schickt der Vater ihn, damit er nach dem Rechten sehe, als würde er den anderen Jungs nicht vertrauen – als Josef also am nächsten Tag aufs Feld kommt, sehen ihn seine Brüder von weitem, weil sein Kleid in der Sonne funkelt, und rufen: „Schaut nur, wer da kommt: unser kleiner Träumer!“ Es klingt böse und gemein. „Der Träumer mit dem Glitzerkleid!“ Josef ruft: „Was habt ihr denn, ich tu euch doch nichts. Träumt doch eure eigenen Träume!“ Aber sie beginnen ihn zu schubsen, ihre Hände beschmutzen sein Kleid und dann packen sie Josef, reißen ihm das Kleid vom Leib und zerfetzen es, als seien sie wilde Tiere. Josef werfen sie in eine Grube. Aus den Augen, aus dem Sinn. Dem Vater bringen sie die Überreste des Kleides: „Sieh“, sagen sie, „das ist alles, was von ihm übrig ist. Dein Sohn ist tot. Es müssen Hyänen gewesen sein, da kann man nichts machen.“

Aber Josef ist nicht tot. Sie haben sein Kleid zerfetzt. Seine Haut konnte er retten. Und seine Träume auch. Seine Brüder verkaufen ihn an Händler als Sklaven nach Ägypten. Und dort, weit, weit weg von seinen Brüdern, beginnt ein neues Kapitel. Er wechselt die Rollen. Er probiert unterschiedliche Kleider an. Und: Josef lernt die Träume der anderen kennen.

Zum Beispiel diesen: Aus dem Wasser steigen sieben rosa Kühe, die weiden im Gras und sind herrlich anzusehen, groß und rund und satt. Danach steigen sieben andere Kühe aus dem Wasser, die sind hässlich und mager, und sie treten neben die rosa Kühe und fressen sie auf. 

Auf einmal ist Josef sehr hellsichtig. „Wollt ihr wissen“, fragt er, „wollt ihr wissen, was das bedeutet? Es wird gute Jahre geben. Jahre, in denen alles da ist. Da könnt ihr aus dem Vollen schöpfen, da könnt ihr eure Träume füttern und das Leben ist bunt und schön. Aber es werden auch andere Zeiten kommen, magere, schwere Jahre, da müsst ihr von euren Träumen zehren, damit euch Hass und Zorn und Neid nicht auffressen.

Die hässlichen Gefühle fressen nämlich die Seele auf, wenn man nichts gegen sie in der Hand hat. Darum träumt auf Vorrat. Sammelt Mut, hortet Phantasie, verbündet euch. Dann werden auch diese Jahre vorübergehen. Dann werden die rosa Kühe siegen.“ 

So oder so ähnlich erzählt es die Bibel im 1. Buch Mose.

Warum stört es Menschen so sehr, wenn andere anders sind? Vor allem, wenn sie auffallend anders sind? Woher kommen Hass und Brutalität, denen queere Menschen ausgesetzt sind?

Wenn Josef ein Prinzessinnenkleid trägt, tut er niemandem weh. Niemand muss deswegen auch Prinzessinnenkleider tragen. Klar: Es kann schon sein, dass Josef ein bisschen angegeben hat. Dass er ein bisschen größenwahnsinnig war in seinen Träumen. Dass er herumstolzierte wie ein Pfau. Und eine Petze war er offenbar obendrein. Also nicht zwingend der angenehmste Bruder. Kann alles sein.

Aber dafür tötet man doch nicht. Und das war es ja, was Josefs Brüder wollten: ihn töten, ausmerzen. Zunichtemachen, was anders ist. Dass es dann doch nicht so weit kam, ist Ruben zu verdanken, dem Ältesten. Die Stimme der Vernunft. Einer, der den Mut hat, sich den anderen entgegenzustellen und zu sagen: Das geht nicht. Das können wir nicht machen. Um Himmels Willen kein Blutvergießen!

Stattdessen verkaufen sie Josef. An vorüberziehende Händler, das brachte noch ein bisschen Geld. Natürlich verkauft man auch keine Menschen, aber in der biblischen Geschichte beginnt damit Josefs Entwicklung. Jetzt steht er nicht mehr unter den Fittichen des Vaters. Er kommt in ein fremdes Land und lernt. Er lernt die Träume anderer Leute zu deuten. Er lernt, sich selbst zurückzunehmen.

Nicht alles dreht sich mehr um ihn. Er lernt, dass das Gemeinwohl manchmal wichtiger ist als die eigene Befindlichkeit. Und dann lernt er, dass das auch zusammengeht: Für sich selbst und für andere einzutreten. Kleider spielen dabei immer noch eine große Rolle. Aber sie sind nicht mehr der Mittelpunkt der Geschichte.

Ich stelle mir vor: ein Tag, an dem alle anziehen, wovon sie insgeheim träumen. Wie Karneval, nur in echt. Sibylle zum Beispiel trägt ein Kleid aus 943 Federn, die hat sie alle eigenhändig angenäht. Weil sie sich mal wie ein Vogel fühlen will. Paul trägt Pailletten zum Blaumann. Igor trägt wie immer Jeans und Wollpullover, weil er sich darin am allerwohlsten fühlt und zutiefst Igor ist. Frau Piepental hat ihren Petticoat rausgeholt und niemand sagt: Na wissen Sie, in Ihrem Alter…

Es gibt Könige und Draufgängerinnen, es gibt Nietenhosen und Zweireiher, Kopftücher und Knickerbocker, es gibt grau und rosa. Es gibt Kippa und Krawatte, und Josef steht in seinem Prinzessinnenkleid dazwischen und fällt überhaupt nicht auf, weil er dazugehört. So wie alle dazugehören. Und nein, es geht nicht darum, wer am grellsten leuchtet. Es geht einfach nur ums Sein. Und niemand haut das eigene Sein anderen um die Ohren.

Und Gott schaut sich das an und findet es gut. Das glaube ich zumindest, auch wenn ich es natürlich nicht weiß. Kein Mensch weiß, was Gott denkt, sagt, will, tut. Ich stelle mir vor, wie Gott zwischen all den bunten Menschen steht und sich verbeugt. Das irritiert, also passt es zu Gott. Gott irritiert oft.

Ein paar Leute machen es nach. Sibylle verbeugt sich vor dem Knickerbockerträger, Igor verbeugt sich vor einem kleinen Mädchen mit Hut. Ein Punk verbeugt sich vor Oma Grete, eine Polizistin verbeugt sich vor einer Linksalternativen und umgekehrt, ein Golden Retriever verbeugt sich vor einer misstrauischen Katze.

Einfach aus Respekt vor seinem oder ihrem Sein. Auch vor ihrem Anders-Sein. Eine Verbeugung ist eine kurze Geste. Wer in ihr verharrt, buckelt. Darum geht es nicht. Sondern darum, einander groß zu machen. Wechselseitig und abwechselnd. Anzuerkennen: Du bist anders. Ich bin anders. Und wir gehören als Menschen trotzdem zusammen. Wir werden einen Weg finden, nebeneinander zu leben, ohne einander in den Schatten zu stellen.

Warum meinen wir so oft, um die einzig wahre Wahrheit kämpfen zu müssen? Wie schön wäre das: zuhören, ohne zustimmen zu müssen. Sich wundern und anderes wunderbar finden. Niemanden vereinnahmen wollen, sondern in Verschiedenheit vereint sein.

In der Bibel wird Gott von Mose gefragt: Wie ist eigentlich dein Name? Gott antwortet überraschend fluide: „Ich werde sein, wer ich sein werde.“ Ich entwickle mich. Ich bin nicht in Stein gemeißelt. Seid ihr es auch nicht. Gesteht euch Veränderung zu, auch als Gesellschaft.

Im zweiten, dem älteren Schöpfungsbericht der Bibel und der Thora, heißt es, dass Gott aus Staub einen Menschen macht. Ein lebendiges Wesen. Weder Mann noch Frau, nur Mensch. Ein Geschlecht scheint der Mensch am Anfang nicht zu brauchen, aber ein Gegenüber. Baum, Vogel, Vieh reichen nicht. Was fehlt, ist ein Mensch, der dem Menschen ähnelt. Also macht Gott aus dem ersten Menschen einen zweiten Menschen und erst da werden Geschlechter benannt.

Das Sein ist sicher. Alles andere darf sich entwickeln.

Ein Prinzessinnenkleid, das ein Mann trägt, tut niemandem weh. Niemand muss deswegen auch Prinzessinnenkleider tragen. Niemand muss schwul werden, weil andere schwul sind. Niemand muss gendern, weil andere gendern. Niemand muss Volksmusik mögen, weil andere Volksmusik hören. Niemand muss sein, wie andere sind.

Jedes UND verbindet. Josef und seine Brüder. Gay und straight. Wunsch und Wirklichkeit. Glitzer und ganz normal. Weiblich und männlich. Und zwischen diesen Polen gibt es ganz viel Platz für alle.

„Ist das jetzt ein Freibrief?“, würde Simeon, der Heißsporn unter Josefs Brüdern, vielleicht einwenden. „Ist dann auf einmal alles erlaubt?“ Leicht entflammbar wittert er überall eine Falle. Wir müssen ihn beruhigen. Um mit der Bibel zu antworten: „Alles ist erlaubt. Aber nicht alles dient dem Guten.“ (1. Korinther 6,12)

Wir haben ja Regeln: zum Beispiel die zehn Gebote. Töten darfst du nicht. Zum Beispiel das Grundgesetz: Alle Menschen haben die gleichen Rechte. Wir haben ein Gewissen, das ist ein Muskel, den wir trainieren müssen: Die eigene Freiheit endet, wo sie andere beschädigt.

Natürlich müssen wir das immer wieder neu ausloten. Und natürlich gibt es manchmal Dilemmata, die sich nicht einfach lösen lassen. Für alle minderschweren Fälle aber gibt es ein schönes Wort: Großmut. Über manche Dinge kann man auch einfach mal hinwegsehen.

Es gilt das gesprochene Wort.

Musik dieser Sendung:

1. „Dream a Little Dream of Me“, The Mamas & The Papas

2. Korn, das in die Erde, Sacre fleur

3. Kinderszenen, Opus 15,1 Robert Schumann

4. Der Gesang der Sterne, Jan Simowitsch

5. In dir ist Freude, Sacre fleur

6. I Want to Break Free, Queen

7. „Dream a Little Dream of Me“, The Mamas & The Papas

 

 

22.02.2024
Susanne Niemeyer