„Help me if you can.“

Help me if you can

Gemeinfrei via unsplash.com (Nikko Macaspac)

„Help me if you can.“
Die Kunst zu helfen
03.12.2017 - 07:05
15.11.2017
Anja Neu-Illg
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Wach

Nach einer kalten Herbstnacht. Ich richte mich in meinem Bett auf. Mühsam. Versuche, den Schlaf abzuschütteln. Vor dem Fenster hält ein kleines Bäumchen zitternd an den letzten verbliebenen Blättern fest.

Vielleicht klirren sie, wenn man sie anstupst.

Jemand ist bei mir. Mein Mann schläft einen erschöpften Schlaf. In einem anderen Bett. Da ist eine Lücke. Da ist ein Nachtschrank. Schmerztabletten. Da ist eine lange Sonnenblume. Da ist ein Foto von einem kleinen Menschen-Vögelchen, das aus dem Nest gefallen ist. Ich streiche über meinen Bauch. Leer. Sie ist weg. Klopft nicht mehr von innen an. Ich will aufstehen, zu ihr, sie suchen… . Aber ich kann nicht. Ich will etwas sagen, jemanden rufen, aber jedes Wort scheint eine Tonne zu wiegen.

Zu schwer, um es auszusprechen.

 

Herzlichen Glückwunsch

Ein kurzes Klopfen. Irgendjemand macht Licht. Öffnet das Fenster mit Schwung. Ruft strahlend: „Guten Morgen. Herzlichen Glückwunsch.“ Was? Irgendjemand muss sich im Zimmer geirrt haben. Was soll gut sein an diesem Morgen? Ich bin hier. Aber mein Baby nicht bei mir. Ich weiß nicht, wie es ihr geht. Kann auch nicht nachsehen. Gestern Morgen war ich noch guter Hoffnung. In einigen Monaten ein Kind. Jetzt ist es da. 1040 Gramm. Und ich. Werde von einem gewaltigen Gewicht auf das Bett gepresst. Was bitte soll an diesem Morgen gut sein?

 

Gestern

hatte ich nichts weiter vor, als routinemäßig zur Schwangerschaftsvorsorge zu gehen. Bisschen Baby-Fernsehen. Dann Kaffee trinken. Am Abend sitzt mir Dr. T. gegenüber und sagt:

„Sie haben das HELLP Syndrom. Es gibt eine Dynamik nach unten. Es gibt da jetzt nichts mehr zu entscheiden. Wir werden einen Kaiserschnitt machen.“

Ich habe eine Stunde, um mich darauf einzustellen, dass mein Baby nicht in zwölf Wochen, sondern jetzt sofort zur Welt kommt.

 

HELLP

Syndrom, das. Schwere Schwangerschaftskomplikation, die zum Tod von Mutter und Kind führen kann. Dabei stehen die Buchstaben H-E-L-L-P für lebenswichtige Körperfunktionen, die sich – zunächst unbemerkt – verabschieden. Das Blut beginnt, sich aufzulösen. Die Leber stellt nach und nach ihren Dienst ein. Das Blut verliert seine Fähigkeit, zu gerinnen. Schnelle Hilfe ist nötig. Help. Hilfe! Schnell!

Therapie: bei einem HELLP-Syndrom besteht die Therapie in einem Kaiserschnitt, unabhängig von der Schwangerschaftswoche. Häufig klingen die Symptome nach Beendigung der Schwangerschaft schnell ab. Es gibt allerdings auch schwere Verläufe.

 

HELL

Ich habe einen schweren Verlauf.

H-E-L-L-P, hellp steht nicht nur für sich verabschiedende Körperfunktionen,…nicht nur für „Hilfe! Schnell!“ HELLP, steht auch für englisch: hell – Hölle.

Trotz Kaiserschnitt geht es weiter abwärts.

Es gibt einen Moment – Tage nach der so genannten Geburt-, in dem ich nur noch so auf meinem Bett daliegen kann. Keine Bewegung mehr, kein Wort mehr, keine Kraft mehr.

Das Gefühl, von einer tonnenschweren Walze überrollt zu werden und gleichzeitig zu fallen, immer weiter fallen. Irgendwann denke ich: Noch weniger leben geht nicht. Das muss sterben sein.

Ich spüre, wie mein Atem geht und warte darauf, dass er nicht mehr zu mir zurück kommt.

Doch er kommt und geht. Wieder und wieder. Erstaunlich, wie wenig Leben möglich ist.

 

Wahrnehmung

Reglos. Sprachlos. Fallend. Und gleichzeitig alle Sinne bis auf das äußerste geschärft. So, als ob jemand die bisher unbemerkt gebliebene Schutzfolie von meiner Seele gerissen hat. Nichts bleibt draußen. Nichts wird gefiltert oder abgepuffert. Das kleine LED-Lämpchen neben meinem Bett: Hell, wie die Sonne. Der Rasenmäher vor der Tür: wie ein Flugzeug, das neben mir landet. Ein Hauch Parfum: Wie ein Nebel im ganzen Raum, der mir noch stundenlang in der Nase hängt. Ein leises Gespräch auf dem Flur: Wie ein zu laut gedrehtes Radio direkt neben meinem Ohr. Alles greller, größer, lauter, mächtiger. Schutzlos erschöpfte Seele.

 

Irgendjemand

kommt rein und will wissen, was ich morgen essen möchte. Irgendjemand wischt den Boden. Irgendjemand mäht den Rasen vor der Tür. Irgendjemand stellt ein Tablett mit Essen hin. Irgendjemand holt das unangetastete Tablett wieder ab. Irgendjemand füllt den Wandschrank mit Baby-Bodies in Größe 50 und Windeln: Größe 1. Aber in diesem Mutter-und-Kind-Zimmer ist kein Kind. Außerdem trägt meine Kleine Windelgröße 0. Und Bodies braucht sie im Inkubator nicht. Irgendjemand stellt Fragen: Wie geht es ihnen heute? Irgendjemand hat keine Zeit für die Antwort. Irgendjemand misst meinen Blutdruck. Sagt eine Zahl. Geht wieder. Irgendjemand nimmt mir Blut ab. Irgendjemand ruft meine Blutwerte in den Raum. Irgendjemand sagt Bluttransfusion. Irgendjemand sagt: psychologische Hilfe. Irgendjemand bohrt ein Loch in die Wand. Irgendjemand schleift einen Schrank ab.

 

Jemand

Hilfe, ich brauche jemanden.

Aber bitte: nicht nur irgendjemanden.

 

Worte

Menschen, die es gut mit mir meinen, kommen und wollen mit mir beten.

Kraftlos schicke ich sie weg. Ich selbst habe kaum Worte. Es fällt mir schwer, zu sprechen.

Die Gedanken sind in meinem Kopf, aber sie kommen nur mühsam aus meinem Mund.

Ich will nicht, dass fremde Worte über mir ausgegossen werden. Ich fürchte mich vor ihnen.

 

„Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.

Sie sprechen alles so deutlich aus:

Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,

[... ] sie wissen alles, was wird und war;

kein Berg ist ihnen mehr wunderbar... .“

(Rainer Maria Rilke)

 

Einfach da

Es ist seltsam. Aber ich habe nicht das Gefühl, dass Gott gerade weit weg ist.

Einer, der das alles nur zulässt und von weitem zuschaut.

Ich empfinde es auch als unnötig, Gott zu mir zu bringen, durch Gebet oder was auch immer.

Er ist nicht in den Wörtern.

Gott. Ist das Bett, auf dem ich liege.

Gott. Die Luft, die ich atme.

Gott. Ist, dass ich noch lebe.

Niemand kann ihn vorbeibringen.

Er ist ganz einfach schon da.

 

Warum?

Fragen die Leute. Ich frage das nicht. Mir fehlt dazu der Abstand.

Es braucht Distanz um die Frage nach dem Warum zu stellen.

Ich frage eher: Wie lange noch? Und: Wie komm ich hier raus?

 

Jemand bitte

Help, I need somebody. …, not just anybody…singen die Beatles.

Hilfe, Ich brauche jemanden. Aber bitte nicht nur irgend-jemand.

 

Jemand soll bitte kommen. Jemand, der meinen Namen kennt.

Jemand, der weiß, wer ich noch gestern war.

Jemand, der Zeit hat. Zeit, zu warten, bis ich die Worte herausgepresst habe.

Jemand, der wirklich mich meint.

Jemand, der nicht nur einen Beruf an mir ausübt, sondern wirklich helfen will und kann.

 

I need somebody. Zwischen all den Irgend-jemanden...taucht immer wieder jemand auf.

Eine Küchenfrau, eine Freundin, eine Ärztin, mein Mann, eine Schwester, eine Hebamme.

Und immer wieder schickt der Himmel: Jemanden.

 

And I do appreciate you being round

H. kommt vorbei. Dass sie dafür extra ihren Familienurlaub abbricht, erfahre ich erst später.

Sie kann etwas, dass nicht viele können: Einfach nur da sein.

Ohne Applaus dafür zu verlangen. Ja, ohne überhaupt an ein Publikum zu denken.

Einfach da sein. Nicht für sich selbst, sondern für mich. Sie liest mir aus einem Kinderbuch vor.

In all die Echsen und Schrecksen versetzt sie sich, wie man es für Kinder tun würde.

Ich dämmere dabei weg. Atme ruhiger. Manchmal blinzele ich kurz zu ihr rüber.

Sie ist ganz bei der Sache. Ganz bei sich und so auch ganz bei mir.

 

Schuld

Eine junge Ärztin steht an meinem Bett. Sie setzt sich. Stellt Fragen, die sie selbst beantwortet. Fragen, die ich wirklich habe:

„Hätten Sie es merken können? – Nein.

Hätten Sie es verhindern können? – Nein.

Lag es an der Ernährung? – Nein.

Gab es irgendetwas, was Sie getan haben, um dies zu verursachen? – Nein.

Ihr Körper hat Sie im Stich gelassen und Sie sind nicht schuld daran.“

 

Im Stich gelassen

„Müsstest du nicht sauer sein auf Gott? Ich mein, du arbeitest für den und der hat dich einfach hängen lassen, oder?“, fragt eine Freundin mich später.

Bin ich sauer auf Gott? Irgendwie nicht. Vielleicht weil ich bisher auch nicht dachte,

dass man sich sein Schicksal irgendwie verdient? Mein gutes Leben. Mein Glück. Meine Freunde.

Das war doch auch alles nicht verdient.

 

Hände

Dr. T. kommt vorbei. Sie nimmt sich einen Moment Zeit. Zeit, die sie eigentlich nicht hat. In ihrer Brusttasche vibriert immer wieder ein Pieper. „Ist OK“ sagt sie. „Jetzt bin ich hier.“ Sie spricht ruhig und freundlich mit mir über das, was passiert ist. Vor ein paar Stunden hat sie mein Kind aus meinem Bauch geholt. Sie sieht sehr jung aus. Ich öffne meine Hände und sie legt ihre für einen Moment hinein. Kleine, weiche Hände.

 

Menschenkinder

Ein paar Tage später. Eine Psychologin stellt sich vor. Erklärt ihre Erfahrung und Ausbildung.

„Damit Sie entscheiden können, ob Sie mit mir arbeiten wollen.“ Ich bin mir ganz sicher, dass ich nicht aussehe, als würde ich demnächst in irgendeiner Weise arbeiten.

„Sie werden staunen, wie schnell Sie sich erholen. Das alles hier wird bald nur noch ein böser Traum sein. Bald sind Sie wieder auf den Beinen.“

Bald? Aber ich muss jetzt zu meinem Kind. Schon so viele Tage … und sie kennt mich noch gar nicht.

„Bonding“, sagt sie, „ist bei den Menschen nicht wie bei den Enten. Die Menschenkinder halten nicht das für die Mutter, was sie zuerst sehen. Die Menschenkinder halten den für die Mutter, der sich dauerhaft und verlässlich um sie kümmert. Der Anfang ist zwar wichtig, aber es ist nicht alles verloren, wenn man den Anfang quasi verpasst.“

 

Help me, get my feet back on the ground

Jemand steht an meinem Bett. Schwester G. Mit Elan, der für uns beide reicht sagt sie:

„Für diese Woche habe ich mir vorgenommen, dass wir beide hoch zu ihrer Tochter gehen.

So. Wir starten jetzt mit hinsetzen und bis zu diesem Rollstuhl gehen.

Morgen gehen wir zu diesem Fenster da. Dann gehen wir in den Essenraum.

Und danach die Königsdisziplin: die Treppen nach oben.“ – Na denn man tau!

In drei Tagen in den zweiten Stock? Glaub ich nicht.

 

Elternschleuse

Im zweiten Stock ist die Raumstation. Neonatologie. Frühgeborenenintensivstation.

Dort gewöhnen sich die winzigen Weltraumwesen an die Herausforderungen des Erdenlebens: Sauerstoff atmen. Der Schwerkraft ausgesetzt sein. Licht sehen. Kühle Luft spüren. Mit dem Mund essen. Zur Raumstation führt eine Elternschleuse. Man drückt auf eine Klingel, sagt, dass man die Mutter von soundso ist...geht in die Schleuse. Desinfiziert sich wie ein Chirurg vor einer OP. Dann geht man rein und ist auf einmal Mutter eines Frühgeborenen. Jedes Frühchen in einem Inkubator. Ein Hightech-Glaskasten, der Temperatur und Luftfeuchte reguliert mit Zugängen für allerlei Kabel und Schläuche.

Schwester G. schafft es tatsächlich, mich bis zur Elternschleuse zu bringen.

Nach drei Tagen drücke ich den Knopf: „Guten Tag, hier ist die Mama von...“

 

Känguru

Was ich nicht wusste: die kleinen Wesen, und mögen sie auch nur so viel wie eine Tüte Zucker wiegen, und seien sie auch noch so anfällig für Infektionen... .

Die kleinen Weltraumwesen dürfen zweimal am Tag aus ihren Plexiglaskästen heraus um auf ihren Mamas und Papas zu liegen. Känguruhen nennt sich das. Eben eine Mischung aus Känguru und Ruhe. Der Känguru-Beutel wird dabei aus Handtüchern und Decken gebaut.

Und so lege ich mich auf einen Liegestuhl neben dem Inkubator. Eine Schwester kommt und legt mir mein kleines Weltraumwesen mit Kabeln und Schläuchen auf den Bauch. Viel zu sehen ist nicht von meiner Kleinen. Aber zu riechen. Zu spüren. Zu schnuffeln. Zu atmen. So liegen wir da. Umgeben von Apparaten, Piepen und dem Hin und Her der Ärzte und Schwestern. Tag für Tag. Stundenlang.

Mein Atem beruhigt sie. Ihr Atem beruhigt mich. Das kleine Köpfchen, nicht größer als ein normaler Apfel, kann sie kaum drehen. Ihre Hand greift nach meinem kleinen Finger. Das Händchen ist so breit wie die Spitze meines kleinen Fingers. Es fehlt trotzdem nichts. Miniaturwunderland.

 

Morgen

Doch wir leben. Leben!

Und aus eins mach zwei.

Du bei mir.

Und die Gewissheit:

Es wird ein Morgen geben.

 

Über Listen

Wir schreiben eine Liste, warum wir uns keine Sorgen um unser Kind machen müssen.

Wenn uns der Mut verlässt, lesen wir uns die Liste nochmal durch.

Bei hartnäckiger Mutlosigkeit wiederholen wir den Vorgang mehrmals.

Warum wir uns keine Sorgen machen müssen:

Sie nimmt zu. Nach anfänglichen 1040 g sank ihr Gewicht auf 900 g.

Und jetzt wiegt sie schon wieder 930 g!

Sie beginnt, die winzigen Mengen Muttermilch zu verdauen.

Sie ist ruhiger geworden und kann sich entspannen.

Sie meldet sich, wenn sie Hunger hat.

Ihr Blutkreislauf schließt sich richtig.

Sie kuschelt gerne.

Sie hat einen Willen.

Sie kann meckern und etwas für sich fordern.

Sie hat sehr gute Medizin und sehr gute Menschen um sich.

 

Zu Hause

Ich wurde aus der Klinik entlassen. Wir stehen am Fenster.

Unser Mädchen ist noch auf der Intensivstation und wird dort noch für Wochen bleiben.

Auf dem Fensterbrett unsere Weihnachtskrippe.

Das Jesuskind liegt unter einer Plexiglashülle. Von so einer Pralinenverpackung.

So ist es gut geschützt. Das kleine Wesen. In diesem Jahr ist alles früher.

Die kalten Nächte. Die Weihnachtskrippe. Mitte November.

 

Weihnachten

Jemand kommt.

Nicht einfach irgendjemand.

Jemand, der uns kennt. Der uns meint.

Jemand, der weiß, wer wir noch gestern waren.

Jemand, der helfen kann.

Jemand, dem nichts Menschliches fremd ist.

 

Wie soll ich dich empfangen

„Als mir das Reich genommen,

da Fried und Freude lacht,

da bist du, mein Heil, kommen

und hast mich froh gemacht.“

(Paul Gerhardt 1653)

 

 

Musik dieser Sendung:

  1. In Dulce Jubilo, Bugge Wesseltoft, Nils Landgren, Christmas with my Friends
  2. Help, The 12 Cellists of the Berlin Philharmonic, Beatles in Classics
  3. Wie soll ich dich empfangen, Thomas Wahl

 

 

15.11.2017
Anja Neu-Illg