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Noch acht Tage bis Weihnachten, und im Hause Luther in Wittenberg herrscht Hochbetrieb. Die Vorbereitungen für das Weihnachtsfest sind im vollen Gange. So erzählt es Elke Strauchenbruch, Stadtführerin in Wittenberg. Es ist zwar noch Advent, also Fastenzeit. Aber das Weihnachtsessen für drei Feiertage will vorbereitet sein. Das muss vorher passieren. Denn zum Fest soll die Arbeit ruhen. Deshalb duftet es schon jetzt in allen Räumen nach den Zutaten für das Festmahl. In der Küche stampfen die Mägde Butter. Lebkuchen und Gugelhupf backen im Ofen. Äpfel und Birnen werden zerkleinert, gerührt und dann zu Fruchtmusschnitten getrocknet. Die Haltbarkeit ist wichtig. Was zum Weihnachtsfest gebacken wird, soll bis Pfingsten halten. Ein nachhaltiges Fest, würde man heute sagen.
Im Stall schnattern die Gänse. Sie wissen noch nicht, dass sie bald ausgeschnattert haben. Käthe Luther ist für ihren Gänsebraten mit Äpfeln und Nüssen berühmt. Und natürlich für ihr Bier, das sie zum Weihnachtsfest besonders stark braut. Die Zutaten und die Mengen an Lebensmitteln sind teuer. Aber so wie viele andere Familien sparen die Luthers das Jahr über, um an Weihnachten richtig feiern zu können. Und sie bereiten das Fest nicht nur für ihre siebenköpfige Familie vor. Ins ehemalige Schwarze Kloster zu Wittenberg, das Martin und Katharina Luther als Wohnhaus dient, kommen immer viele Gäste. Jetzt im Advent und an Weihnachten sitzen manchmal bis zu fünfzig Leute am Tisch: Studenten, Freunde, Professoren, Bettler.
Katharina managt diesen großen Haushalt. Und was macht Martin Luther? Er hat sich in sein Zimmer hoch oben zurückgezogen. Von dort aus kann er auf die winterlichen Elbwiesen schauen. Er arbeitet an Weihnachten noch mehr als sonst. Er predigt oft zweimal täglich und bereitet sich stundenlang darauf vor. Aber vielleicht gönnt er sich gerade auch eine Pause vom Schreiben und hat die Kinder um sich versammelt. Er probt mit ihnen das Lied, das er vor einem Jahr gedichtet hat. Da war gerade die jüngste Tochter Margarete geboren, am 17. Dezember 1534, sieben Tage vor Heiligabend. Luther saß an ihrer Wiege, sah dieses kleine Bündel Mensch, in Windeln gewickelt. Die zarten Hände mit den winzigen Fingernägeln, das Köpfchen seiner frisch geborenen Tochter. Ein Neugeborenes zu betrachten ist, als würde man den Schöpfer auf frischer Tat ertappen. An der Wiege seiner jüngsten Tochter dichtet Martin Luther eines der schönsten Weihnachtslieder: „Vom Himmel hoch, da komm ich her“. Die Melodie ist ein Wiegenlied, das man einem Kind zum Einschlafen singen kann. Das Lied beginnt ganz oben, in der Höhe, mit einem klaren, himmlischen C. Und dann führt die Melodie in Wellen nach unten bis zum tiefen C. Der Himmel kommt auf die Erde. Mit sanften Schritten, zart wie ein Wiegenlied.
Vom Himmel hoch, da komm ich her. Martin Luther hat die 15 Strophen des Liedes dramaturgisch gedichtet wie für ein Krippenspiel. Vermutlich haben es die Kinder und Pflegekinder im Hause Luther tatsächlich in der Adventszeit geprobt und dann an Weihnachten aufgeführt, bevor es die Bescherung gab. So wie zurzeit Kinder und Jugendliche in den Kirchengemeinden das Krippenspiel für den Gottesdienst am Heiligen Abend proben. „Vom Himmel hoch“ ist ein Krippenspiel mit Engel, Hirten und schließlich mit uns, den Menschen von heute. Als erstes erscheint der Engel und verkündet:
Vom Himmel hoch, da komm ich her,
ich bring euch gute neue Mär;
der guten Mär bring ich so viel,
davon ich singn und sagen will
Advent und Weihnachten wecken bei mir die Sehnsucht, dass etwas vom Glanz des Himmels auf mein Leben fällt. Die gute neue Mär ist kein Märchen aus uralten Zeiten. Maren heißt im Althochdeutschen „verkünden, rühmen“. Die Mär ist die gute Botschaft, die der Engel vom lichten Himmel auf die dunkle Erde bringt. Er verkündet die gute Botschaft in eine Welt hinein, die aus den Fugen geraten ist. Die Geschichte von Jesu Geburt ist schon immer in eine Zeit hinein erzählt worden, in der sich wenig zum Guten fügt. In das bedrohliche und das undurchschaubare Dunkel hinein singt und sagt der Engel: Ich bring euch gute neue Mär. Allen schlechten Nachrichten und bösen Lügen zum Trotz. Was ich euch verkündige, ist wahr und klar. Und was ist nun die gute neue Mär, die der Engel bringt? Die hört sich sehr einfach an:
Euch ist ein Kindlein heut geborn
von einer Jungfrau auserkorn,
ein Kindelein so zart und fein,
das soll eu’r Freud und Wonne sein.
Was ist so besonders an einem neugeborenen Kind? Jeden Tag und jede Nacht kommen Babys auf die Welt. Jeder Mensch ist irgendwann geboren worden. Klar, die Eltern sind meistens völlig aus dem Häuschen. Für sie ist ihr Baby tatsächlich Freud und Wonne und natürlich das schönste Kind der Welt. Aber muss deswegen gleich ein Engel vom Himmel auf die Erde kommen?
Ja, er muss. Denn jedes neugeborene Kind erinnert mich daran: Ich lebe nicht nur auf mein Ende hin. Leben ist nicht nur Vergehen. Leben ist immer wieder Anfang. Jedes Neugeborene verkörpert die Botschaft: Alles auf Anfang. Alles zum ersten Mal fühlen, hören, sehen, begreifen. Die Welt ganz neu erleben, unberührt, unverbraucht. Jeder Mensch, der zur Welt kommt, ist ein Unikat, unverwechselbar, einmalig. Jeder Mensch steht an einer Stelle, an der vor ihm noch keiner stand. Klar, je älter ich werde, desto mehr Jahre trennen mich von diesem puren Neugeborensein. Aber die Advents- und Weihnachtszeit berührt mich auch deshalb so stark, weil sie an den Ursprung zurückführt. „Euch ist ein Kindlein heut geborn.“ Das heißt auch für mich Erwachsenen, immer wieder anfangen zu dürfen. Das Kindelein so zart und fein erinnert an die unglaubliche Kraft, von neuem zu beginnen. Mir selbst zu verzeihen zum Beispiel. Ich bin nicht ein für alle Mal auf mein Scheitern und meine Fehler festgelegt. Ich kann neu anfangen. Ich kann Vertrauen in die Welt haben und für die Welt hoffen.
Advent und Weihnachten führen an den Ursprung zurück, erinnern an das Geborensein und an die Kindheit. Was ist, wenn ich gar nicht daran erinnert werden will? Bei einem Freund von mir krampft sich der Magen zusammen, wenn er an seine Kindheit denkt. Er war von Anfang an nicht willkommen, als er geboren wurde. Die Mutter hat ihn mehr aus Pflicht denn aus Liebe gewickelt. Sie wollte dieses Kind nicht. Der Vater hat seinen Sohn kaum beachtet. Der Junge konnte machen, was er wollte. Er hat die Anerkennung und die Liebe seiner Eltern nicht bekommen. Heute als Erwachsener ist er Einzelgänger geblieben. Selber eine Familie zu gründen, das konnte er sich nicht vorstellen. Er hat befürchtet: Am Ende geht es mir genauso wie meinen Eltern, dass ich keine Liebe geben kann. Advent und Weihnachten sind jedes Jahr eine emotionale Tortur für ihn. Was soll er mit diesem Fest der Liebe und der Familie anfangen?
Der Gottessohn Jesus war nicht bei allen willkommen. Noch bevor er geboren wurde, haben die Leute getuschelt. Diese junge Frau Maria ist noch nicht verheiratet und schon schwanger. Ist das Kind überhaupt von ihrem Verlobten Josef? Josef selber weiß es genau: Dieses Kind kann gar nicht von ihm sein. Er will die schwangere Maria heimlich verlassen. Da sagt ihm ein Engel im Traum: Hab keine Angst, Maria zu dir zu nehmen! Ihr Kind ist von Gott. Da bleibt Josef bei Maria. Die Geburt ist schwer. Maria und Josef finden nach der Reise von Nazareth nach Bethlehem gerade noch eine Notunterkunft. Es gibt nicht einmal eine Wiege für das Neugeborene. Maria legt ihr Kind in den Futtertrog. Da liegt es immerhin nicht am Boden, und keiner trampelt aus Versehen drauf. Martin Luther dichtet in seinem Weihnachtslied:
So merket nun das Zeichen recht:
die Krippe, Windelein so schlecht,
da findet ihr das Kind gelegt,
das alle Welt erhält und trägt.
In der Strophe hört man den scharfen Kontrast: Der große Gott, der alle Welt erhält und trägt, wird ein Kind in einem Futtertrog, in irgendwelche schlechten Tücher eingewickelt, weil nichts anderes da ist. So wie auch heute Kinder unter erbärmlichen Umständen zur Welt kommen, irgendwo auf dem Land in einem Hungergebiet, in einer zerbombten Stadt, auf einem Flüchtlingsboot im Mittelmeer. Heute wie damals gibt es junge Frauen, fast noch Mädchen, die mit ihrer Schwangerschaft allein gelassen sind, hier in Deutschland und in anderen Ländern.
In seinen Advents- und Weihnachtspredigten hat sich Martin Luther in die Lage der hochschwangeren Maria und ihres Verlobten Josef hineinversetzt. Er beschreibt seiner Gemeinde, wie weit die Reise war, die Maria und Josef von Nazareth nach Bethlehem zurückgelegt haben. Luther predigt: „Ich glaube, sie haben einen Esel gehabt. Josef wird so klug gewesen sein, dass er einen Esel für die Hochschwangere besorgte … Den weiten Weg von 20 bis 30 Meilen hat sie müssen aufbrechen und zu der fernen Stadt reisen.“ Luther beschäftigt die Frage, warum der jungen Frau keiner geholfen hat, die kurz vor ihrer ersten Entbindung stand. An einem fremden Ort mitten in der Nacht, kein Licht, kein Feuer, keine Hebamme – so hat Maria ihr Kind geboren.
Jede Krippe auf dem Weihnachtsmarkt oder zu Hause zeigt, wie notdürftig das Leben sein kann – brüchig wie ein Stalldach, durch das es reinregnet. Maria, Josef, das Jesuskind im Futtertrog bewegen dazu, mich in die Not von anderen Menschen hineinzuversetzen. Weil Gott selbst sich in die Lage und in die Not hineinversetzt. Gott lässt sich verwickeln in unser Leben wie ein Baby in Windeln. Der Gottessohn Jesus liegt nicht auf Samt und Seide, sondern auf „dürrem Gras, davon ein Rind und Esel aß“, so dichtet Luther. Das Leben piekt wie Stroh, und es tut weh. Gott kommt hautnah. Martin Luther beschreibt das in seinen Weihnachtspredigten handfest. Wörtlich sagt er: Dieses „Kind wird von Maria gewischt, Maria gibt ihm Milch“. Der allmächtige Gott, der Schöpfer des Himmels und der Erde wird ein Kind, hilfsbedürftig und verletzlich. Gott kennt Ohnmacht und Schwäche. Von diesem Kind, das Maria windelt und stillt, sagt der Engel:
Es ist der Herr Christ, unser Gott,
der will euch führn aus aller Not,
er will eur’r Heiland selber sein,
von allen Sünden machen rein.
Er bringt euch alle Seligkeit,
die Gott der Vater hat bereit‘,
dass ihr mit uns im Himmelreich
sollt leben nun und ewiglich.
Luther hat sein Lied „Vom Himmel hoch, da komm ich her“ wie ein Krippenspiel komponiert. Den Engel haben wir schon gehört. Nun kommen die Hirten, die sich von ihrem Feld aufmachen „zu sehn, was Gott uns hat beschert, mit seinem lieben Sohn verehrt“. In Luthers Lied komme nun ich selber vor. Ich soll mit den Hirten zur Krippe gehen und das Jesuskind anschauen. Die nächsten beiden Strophen sind ein Gespräch. Erst ein Selbstgespräch mit meinem Herz, dann ein Gespräch mit dem Jesuskind in der Krippe.
Merk auf, mein Herz, und sieh dorthin;
Was liegt doch in dem Krippelein?
Wes ist das schöne Kindelein?
Es ist das liebe Jesulein.
Ach mein herzliebes Jesulein,
mach dir ein rein sanft Bettelein,
zu ruhen in meins Herzens Schrein,
dass ich nimmer vergesse dein.
Mein herzliebes Jesulein. Das klingt süßlich und naiv. Martin Luther hat den Kritikern von Weihnachten entgegengehalten: Gottes Wunder kommen ganz einfach und gewöhnlich daher. So normal wie ein neugeborenes Kind. Im ganz Normalen begegnet mir Gott. Sogar in mir selber. Gott will Platz in meinem Herzen haben.
Wie schaffe ich Platz für Gott? Martin Luther hat das getan, indem er sich regelmäßig zurückgezogen hat und die Bibel in Ruhe gelesen hat. Das kann ein Anti-Weihnachtsstress-Programm sein: Mir kleine Auszeiten gönnen. Viele Terminkalender im Advent sind voll mit Weihnachtsfeiern, Freunde und Kollegen treffen, mit dem Jahresabschluss in der Arbeit. Das ist so. Jedes Jahr nehme ich mir vor, es anders zu machen, und schaffe es dann doch nicht. Aber hier und da ist eine Stunde frei, die ich mir nehmen kann. Ich kann für mich zu Hause eine Kerze anzünden, Musik hören, gute Worte lesen. Oder mich in eine Kirche setzen, an der ich vorbeikomme, und für ein paar Momente still werden. Martin Luther nannte so einfache Dinge: „Wunder über Wunder“ schauen.
Für ihn war Weihnachten das Fest für die Armen und das Fest der Nächstenliebe. Er hat gesagt: „Arme, zerschlagene, verzweifelte Hirten sind es gewest, denen geht’s an.“ Darum gehörte für Luther zur Vorbereitung auf Weihnachten, dass man von dem, was man hat, denen etwas gibt, die es brauchen. Manche finden, dass die Benefizgalas und Spendenaktionen im Advent kitschige Gewissensberuhigerinnen sind. Ich finde das nicht. Ich finde gut, dass so viele Menschen ihr Herz und ihren Geldbeutel für andere öffnen. Ich habe die Möglichkeit, mir zu überlegen, welchen guten Zweck ich unterstützen will. Ich spende gerne für Obdachlose, für Brot für die Welt, für die Kindernothilfe. Das kann ich das ganze Jahr über machen, aber auch und besonders in der Advents- und Weihnachtszeit.
Passen die Plätzchen, die Vorbereitungen auf das Schlemmen an Weihnachten und die Geschenke zu dem Kind in der Krippe? Luther meinte: Ja! Er hat auch bescheidene Weihnachten erlebt. Im Jahr 1538 waren Lebensmittel so teuer, dass es nur wenig zu essen gab und die Kinder nur kleine Geschenke bekamen. Luther hat damals in der Stadtkirche in Wittenberg gepredigt, „dass doch kein weltliches Geschenk so stark ist, dass es das Herz zufrieden stellen könnte“. Die eigentliche Weihnachtsfreude sei doch: Gott meint es gut mit uns Menschen.
Aber wenn man die Möglichkeit hat, soll man schenken und feiern. In der Bibel sagt der Engel zu den Hirten: „Ich verkündige euch große Freude.“ An Weihnachten soll man sich freuen können. Natürlich gibt es keine Freude auf Kommando. Aber ich kann es mir und anderen schön machen und so der Freude die Tür öffnen. Dann hat sie die Chance, zu mir hereinzukommen. Für Luther gehörte gemeinsam gut essen dazu. Er sagte: „Darf unser Herr Gott gute große Hechte, auch guten Rheinwein schaffen, so darf ich sie wohl auch essen und trinken.“
Und Luther hat zum Christfest gerne die Kinder beschenkt mit Äpfeln, Nüssen und, wenn Geld da war, mit einem Zuckerhut. Denn Gott schenkt sich selbst. Er wird in Jesus Christus Mensch und ist uns so nahe, wie er nur nahe sein kann. Gottes Präsenz ist das größte Präsent. Wer sich freut, macht auch gerne anderen eine Freude. Der packt etwas von sich, von seiner Sympathie und Liebe in das hinein, was er anderen schenkt. Auch in einem kleinen Geschenk steckt die Botschaft: Ich habe an dich gedacht. Das ist für dich.
Schließlich: Wie stimme ich mich auf Weihnachten ein? Musik ist eine Herzöffnerin. Viele Lieder singen, egal ob man mitsummt oder -brummt oder in den höchsten Tönen mitsingt. Das macht das Herz weit. Die letzte Strophe von Luthers Lied „Vom Himmel hoch“ macht mich zu einer Stimme im Engelchor. Der Himmel singt – und ich kann mitsingen:
Lob, Ehr sei Gott im höchsten Thron,
Der uns schenkt seinen ein’gen Sohn.
Des freuen sich der Engel Schar
Und singen uns solch neues Jahr.
Es gilt das gesprochene Wort.
Musik dieser Sendung:
- Vom Himmel hoch, da komm ich her, Vocal Concert Dresden, Lob, Ehr und Preis sei Gott
- Vom Himmel hoch, da komm ich her, Isaak Ensemble Heidelberg, Frankfurt Renaissance Ensemble, Michael Praetorius Advents & Weihnachtsmusik
- Himmel hoch, da komm ich her, Thomas Neumann, Stille Nacht – Musik zur Adventszeit
- Himmel hoch, da komm ich her, Schweriner Blechbläser-Collegium, Weihnachtliche Bläserklänge
- Wolfgang Baumgratz, Weihnachtliche Orgelmusik der Bach Familie – Einige Canonische Veränderungen über das Lied „Vom Himmel hoch“
Literaturangaben:
Elke Strauchenbruch, „Luthers Weihnachten“, Evangelische Verlagsanstalt Leipzig, 3. Aufl. 2017.