Produktive Verstörung

Feiertagsansprache
Produktive Verstörung
Bilder und Filme zum fünften Gebot
31.10.2015 - 12:00
18.11.2015
Gunnar Lammert-Türk

„Himmelverbot“

Gavriel Hrieb hat einen Doppelmord begangen. Das war 1999 und der Rumäne wurde dafür zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Vorzeitig nach einundzwanzig Jahren Haft entlassen, versucht er, neu Fuß zu fassen. Doch seine Tat ist ihm im Weg. Als Hürde bei der Arbeitssuche oder als die Nachbarn ihn aus ihrer Gegend vertreiben wollen. Aber auch subtiler. So weint seine Frau Dana, die seinetwegen aus Frankreich zurückgekehrt ist, als er ihr weiße Rosen schenkt und antwortet auf seine Frage, was sie bedrücken würde: „Damals waren es auch weiße Rosen und dann bist Du ins Gefängnis gekommen.“ Es ist eine nicht zu tilgende Leere, eine tief sitzende seelische Verlorenheit, die der Mord hinterlassen hat. Sie erinnert an die bittere Lebensbilanz des Mörders Raskolnikow in Dostojewskis Roman „Schuld und Sühne“, wenn er sagt: „Mich habe ich ermordet für alle Ewigkeit.“

Das ist die Geschichte von „Himmelverbot“, einem Film des jüdisch-rumänischen Dokumentarfilmers Andrei Schwarz. „Himmelverbot“ hat den diesjährigen DEKALOG-Filmwettbewerb gewonnen. Dieter Kosslick, der Berlinale-Chef, begrüßte die Gäste zur Auszeichnung.

 

An Gewalt darf man sich nicht gewöhnen

Das Projekt DEKALOG HEUTE beschäftigt sich seit 2013 mit den zehn Geboten in Luthers Lesart, über Bilder, bewegte und unbewegte. Inspiriert von der zehnteiligen Verfilmung „Dekalog“ des polnischen Regisseurs Krzysztof Kieślowski, fragt die Ausstellungs- und Veranstaltungsfolge der evangelischen Stiftung St. Matthäus und der katholischen Guardini Stiftung in Berlin bis zum Reformationsjubiläum 2017 nach dem Sinngehalt der Lutherschen Ausdeutung des Dekalogs für die heutige Zeit.

 

Diesmal also das fünfte Gebot: Du sollst nicht töten. Neben dem Film zeigte eine Ausstellung am Askanischen Platz in Berlin einen, wie es die Kunsthistorikerin Frizzi Krella ausdrückt, „Assoziations- und Denkraum“, der dazu anrege, „Defizite in Bezug auf die Gebote zu benennen.“

 

Die sind  bei „Du sollst nicht töten“ mehr als offensichtlich. Als Ausdruck der Ohnmacht gegenüber den aktuellen Gewaltwellen waren die Räume der Galerie nur karg ausgestattet, viel freier Raum und nackte Wand begrüßte die Besucher. Denn in den Medien ist die Gewalt so oft ein Teil der großen Bilderwelt, dass wir uns leicht an sie gewöhnen, und das wollte die Ausstellung verhindern.

 

Dass Gewöhnung an Gewalt von staatlicher Seite gezielt angestrebt werden kann, um das eigene Volk bereit zu machen, den Gegner zu vernichten, veranschaulichte eine Arbeit des Berliner Fotografen Ulrich Wüst. Er hat die Bebilderung eines Unterrichtsmaterials für die Wehrerziehung an den Schulen der DDR abfotografiert und daraus einen Leporello gemacht. Die schlichten, fast kindlichen Bilder und die manches Mal unfreiwillig komisch wirkenden kurzen Erläuterungen dazu banalisieren und bagatellisieren das, worum es geht: eine möglichst effiziente Vernichtung des Feindes.

 

Gebote schützen Opfer und Täter

All das steht in schreiendem Gegensatz zu dem, was Luther in seinem Großen Katechismus zum fünften Gebot ausführt, wenn es dort heißt, „dass man nicht töten soll, weder mit Hand, Herz, Mund, Zeichen und Gebärden noch durch Beihilfe und Rat“, dass dieses Gebot sich vornehmlich auf die Feindesliebe bezieht und Gott mit seiner Hilfe „uns helfen, beistehen und schützen wolle, auf dass er die Lust unterdrücke, uns selbst zu rächen.“

 

In diesen Sätzen Luthers wird deutlich: das Gebot „Du sollst nicht töten“ ist nicht nur ein Schutz für die Opfer und nicht  nur im Blick auf ihr das Leid gesagt, sondern auch auf das Elend der Täter bezogen.

 

Das DEKALOG-Projekt weist auch auf diesen Aspekt des fünften Gebotes hin. Mit seinen Ausstellungen und Filmen sorgt es für eine Art produktive Verstörung, um die Sprengkraft und die Relevanz der Gebote im modernen Kontext zu verdeutlichen –  wie Luther vor knapp 500 Jahren die Gebote für seine Zeit erklärt hat.

18.11.2015
Gunnar Lammert-Türk