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Ars Moriendi
Die Kunst des Sterbens
17.11.2024 07:05

Gestorben wurde und wird immer. Aber der Umgang damit ändert sich. Heute wünschen sich einige einen schnellen Tod. Das war für viele früher eine Horrorvorstellung. Denn sie wollten sich aufs Jenseits vorbereiten. Loslassen – das kann man aus den alten Gebrauchsanleitungen fürs Sterben lernen.

Nach der Ausstrahlung können Sie an dieser Stelle die Sendung nachlesen.

 

Anne Poppe:

Ich hab immer gesagt, ich schaff das, ich mach das easy, ich geh da gut mit um. Und dann war es schwer, plötzlich so eine Angst vorm Einschlafen zu bekommen, weil man denkt, man wacht nicht wieder auf, was kommt hinterher. Niemand ist zurückgekommen. Was wird jetzt? Also diese Schwierigkeit, was wird, was kommt, die ist dann so im Kopf rum gespukt.

Das sagte Annette Poppe kurz vor ihrem Tod. Sie hatte seit einigen Jahren Krebs. Die 48-Jährige wusste, dass die Krankheit in ihrem Fall nicht heilbar ist. Es gelang ihr zu akzeptieren, dass sie sterben muss. Recht gut sogar. Und doch überfiel sie immer wieder vor dem Einschlafen Unruhe. Aus Ungewissheit, was nach dem Tod auf sie wartet. Dass etwas kommt, davon ging sie als gläubige Christin aus. Aber nicht zu wissen, was und wie es sein wird, das machte ihr manchmal zu schaffen. In solchen Momenten fiel es ihr nicht mehr so leicht, den Tod anzunehmen wie sonst. Ist das überhaupt möglich? Thomas Brucher, ehrenamtlicher Helfer in dem Hospiz, in dem Annette Poppe ihre letzten Tage lebte, meint dazu:

Thomas Brucher:                 
Ich glaube, wenn man sich sein Leben lang keine Gedanken ums Sterben oder auch um das eigene Sterben gemacht hat, kann das schwerfallen, das dann, wenn es so kurz vor Torschluss ist, zu akzeptieren und das dann anzunehmen.

Annette Poppe hatte sich mit Tod und Sterben befasst, weit vor ihrer Erkrankung. Der Vater war Bestatter, sie selbst Altenpflegerin. Und in ihrer kirchlich geprägten Heimat, im Eichsfeld, wurde der Tod nicht aus dem Leben verbannt. Doch auch für sie war es nicht immer leicht, ihm gelassen entgegenzusehen. Lässt sich das lernen? Im späten Mittelalter gab es weit verbreitete Handbücher, die den Umgang mit Tod und Sterben vermittelten. Sie lehrten die sogenannte ars moriendi, die Kunst zu sterben. Seelsorgern halfen diese Bücher, Sterbende zu begleiten. Aber auch Gläubige nutzten sie, um sich auf den Tod vorzubereiten. Im Grunde richteten sich die Bücher an alle Menschen, …

Julia Weitbrecht:   
… die sich meditativ vertiefen sollen, andächtig vertiefen sollen in die Reflexion über das eigene Sterben, die eigene Vergänglichkeit und die Ängste, die Verzweiflungen, die Heimsuchungen, die in diesem Zusammenhang entstehen können. Die Idee dabei ist, dass der Sterbende ruhig und gelassen und demütig aus dem Sterbeprozess hinausgeht, dass man die begangenen Sünden reflektiert, sich vergegenwärtigt, sie bereut und dadurch als gereinigter Mensch in den Tod, in das Jenseits eintritt.

Erklärt die Literaturwissenschaftlerin Julia Weitbrecht, die sich mit den ars moriendi-Büchern befasst hat. Sie sollten den Menschen einen guten - oder, wie es auch hieß, einen heilsamen - Tod  ermöglichen. Zu diesem Zweck gaben sie Anleitungen für die Gewissensbefragung und zeigten Wege auf zur Versöhnung untereinander und zum Frieden mit Gott. Je nachdem, wie das gelang, erwartete einen in der jenseitigen Welt Gutes oder Bedrohliches. Im schlimmsten Fall die Hölle. Aber auch die Strafen des Fegefeuers fielen dementsprechend größer oder kleiner aus.

Die ars moriendi-Bücher, die im 15. Jahrhundert aufkamen und bald sehr populär waren, halfen den Menschen damals bei der Vorbereitung auf das Leben nach dem Tod - in dem Bewusstsein, dadurch möglichst wenig für begangene Sünden leiden zu müssen. Deshalb wurde nichts so sehr gefürchtet wie ein plötzlicher Tod, der für diese Vorbereitung keine Zeit ließ. Heute hingegen wünschen ihn sich manche. Denn die Angst vor dem Sterben ist weit stärker als vor dem, was danach kommt. Und doch gibt es Gemeinsamkeiten. Denn es sind ähnliche Phänomene, die damals wie heute das Sterben schwer machen. Die Franziskanerin Schwester Margret, Seelsorgerin in der Hospizarbeit, gibt ein Beispiel:

Schwester Margret:    
Ich stelle oft fest, dass jemand Angst hat. Und wenn ich ihn frage: "Warum haben Sie denn Angst?" - "Ja, weiß ich auch nicht" und so. Können sie oft gar nicht benennen, aber: "Ich hab Angst." Und wenn ich sie dann frage: "Haben Sie denn noch irgendwas, was Sie noch erledigen müssen oder noch Probleme oder ist da noch irgendwas, was Sie hier bedrückt?" Und das hat mit Religion nichts zu tun. Und wenn das dann kommt und sagen: Ja, ich müsste ja eigentlich, meine Tochter oder mein Vater oder was auch immer. Oder ich hab’ mit dem noch ein bisschen Kniest, den hab ich mal ein bisschen angegangen oder was auch immer. Und wenn sie das dann noch erledigen können, ist es wunderbar.

Frieden machen: Verzeihung erfahren und erbitten für begangenes und erlittenes Unrecht; gestörte Beziehungen wieder herstellen - das ist heute ebenso wichtig wie früher, wenn es ans Sterben geht. Damals stand es am Anfang des Weges der Sterbevorbereitung als Bedingung, um sich vom Leben in dieser Welt lösen zu können. In den ars moriendi-Büchern gab es dazu die Ermahnung, seine Vergehen zu bereuen und in der Beichte zu gestehen. Und mit einer Frage wurden die Sterbenden angestoßen, denen zu vergeben, die sie geschädigt haben und sie für die eigenen Verfehlungen um Vergebung zu bitten. Solche Ermahnungen und Fragen leiteten die Sterbenden in den ars moriendi-Büchern durch die Vorbereitung auf den eigenen Tod. Die Literaturwissenschaftlerin Julia Weitbrecht bemerkt dazu:

Julia Weitbrecht:
Daran sieht man, dass das als ein Prozess gedacht wird. Die Strukturierung dieser Sterbestunde nach bestimmten Aspekten soll dazu dienen, dass man das sozusagen Schritt für Schritt befolgen kann und dann auch gelassen diesen Todesaugenblick erleben kann. Alles, was einen im Diesseits belastet, hält, festbindet, vielleicht auch für Angst sorgt, weil man noch nicht alle Rechnungen bezahlt hat oder nicht alle Beziehungen in Ordnung gebracht hat, sein Haus nicht bestellt hat - all diese diesseitigen Dinge, die werden auch adressiert. Also, man geht damit um: Was hab ich geleistet? Welche Sünden hab ich begangen und wo hab ich sozusagen noch offene Rechnungen?

Frieden zu machen und Wiedergutmachung zu leisten, war nur ein Element der Kunst des Sterbens. Fünf große Herausforderungen oder Versuchungen, wie es hieß, mussten die Menschen bewältigen: den Unglauben, die Verzweiflung, die Ungeduld, den Hochmut und die Habgier. Denen standen der Glaube, die Hoffnung, die Geduld, die Demut und die Weltentsagung gegenüber. Diese Haltungen brauchte es, um einen guten Tod sterben zu können und im Jenseits zu bestehen. Dazu half die Kunst des Sterbens als Meditations- und Andachtstechnik. Vor allem durch Bilder. Gezeigt wurde ein Sterbender im Bett. Umgeben von Figuren, die sein Sterben beeinflussen.

Julia Weitbrecht:     
Das sind zum einen Dämonenheimsuchungen, personifizierte Heimsuchungen, die versuchen, den Sterbenden in Verzweiflung zu treiben, ihm die Gelassenheit des Glaubens an Gott und an die Erlösung, an die Auferstehung zu nehmen. Also, wir haben immer im unteren Bildfeld diese Dämonen. Die sehen so aus, wie man sich das allgemein vorstellt: die haben Hörner, die haben haarige Schwänze oder allgemein so eine Körperbehaarung, die haben Fratzen. Und die versuchen, den Sterbenden zu beeinflussen, zum Beispiel, indem sie ihm irdische Güter in Aussicht stellen und eine Krone aufsetzen. Und im oberen Bereich der Bilder haben wir dann Gruppierungen von beispielsweise Heiligen, die man anrufen soll, die das Totenbett umstehen und den Sterbenden beschützen.

Der leidende Christus ist auf diesen Bildern bei den Helfern eingereiht. Manchmal erliegt der Sterbende den Versuchungen. Im Fall der Ungeduld etwa wird gezeigt, dass er den Tisch, auf dem Pflegekräfte sein Essen bereitstellen wollten, umgestoßen hat. Dann frohlocken die Dämonen. Aber am Ende der ars moriendi-Bücher werden sie besiegt. Wütend ziehen sie davon und klagen: "Die Wut frisst mich auf. Wir sind zerschmettert. Wir haben seine Seele verloren. Für uns gibt es keine Hoffnung mehr." Der Sterbende aber kann gefasst diese Welt verlassen. Das geschieht auch heute noch, wie Schwester Margret aus ihrer Hospizarbeit erzählt:

Schwester Margret:       
Ich habe Menschen erlebt, die wirklich ganz in Ruhe gegangen sind, die ihr Leben so ausgehaucht haben. Und das ist schon wunderbar, das auch so zu erleben, in welcher Ruhe so das stattfindet. Ohne großen Kampf. Und das gibt es gar nicht so selten.

Im Mittelalter, das die Kunst des Sterbens so intensiv gepflegt hat, war der Tod nahezu allgegenwärtig. Oftmals starben die Kinder schon kurz nach der Geburt. Die Menschen wurden nicht sehr alt. Und die Pest, die ab Mitte des 14. Jahrhunderts für ein Massensterben sorgte, verstärkte noch die Beschäftigung mit Tod und Sterben. Ein Ergebnis davon waren die ars moriendi-Bücher, die aus vier Elementen bestanden. Sie enthielten Ermahnungen an den Sterbenden; Fragen, die an ihn zu richten sind; Gebete, die ihm im Sterben hilfreich sind und Ratschläge für den Umgang mit dem Sterbenden. In der zweiten Ermahnung wird er aufgefordert, den Tod anzunehmen. Es heißt darin:

Die zweite Ermahnung der ars moriendi:
Ich ermahne dich, das Urteil Gottes zu bedenken, das er über uns alle verhängt hat, als er sagte: "Du bist Asche und musst Asche werden." Dieses Urteil musst du dir gefallen lassen. Wir kommen in die Welt als Pilger, die keine bleibende Stätte haben, und wir müssen wieder ausziehen und haben in der Welt keine feste Wohnung."

Um gut vorbereitet in den Tod zu gehen, musste der Sterbende von ihm begangenes Unrecht - so weit er konnte - wiedergutmachen, gestörte Beziehungen wiederherstellen. Das hieß auch, vor dem Tod Schulden zurückzuzahlen und unrecht erworbenes Gut zurückzugeben. Die an ihn zu stellende fünfte Frage drängte deshalb:

Die fünfte Frage der ars moriendi:
Vergibst du von ganzem Herzen allen, die dir an deinem Leib, deiner Seele, deinem Gut, deinem Landbesitz und deinem guten Ruf Schaden zugefügt haben? Erbittest du auch von Herzen Vergebung von allen Menschen, wer und wo sie auch immer seien, denen du Schaden zugefügt hast an Leib, Seele, Gut, Land und gutem Ruf?

Noch deutlicher mahnte die sechste Frage:

Die sechste Frage der ars moriendi
Willst du alles wiedergutmachen und zurückgeben, was du auf unrechte Weise ersessen, gewonnen oder in deinen Besitz gebracht hast? Willst du diese Wiedergutmachung auch dann leisten, wenn du dich damit um all deine Güter bringen würdest, so dass du nackt und bloss dastehen würdest?"

Heute ist der Tod nicht so intensiv präsent wie im Mittelalter, als die Menschen früher starben und ihr Leben schon mit der Geburt oft gefährdet war. Er ist aber auch weniger gegenwärtig im Lebensvollzug und im Sichbesinnen auf die eigene Sterblichkeit. Weitgehend wird er ausgeblendet und an den Rand gedrängt: an den der eigenen Biographie, an ihr Ende. Räumlich aus dem eigenen Lebensumfeld in Krankenhäuser, Altenheime und Hospize. Existenziell als prägender Einfluss. Dennoch sind auch die Menschen heute mit Fragen und Herausforderungen konfrontiert, die denen der Leute damals verwandt sind. Auch heute geht es darum, sich lösen, vom Leben lassen zu können. In der ars moriendi wurde darauf in Ermahnungen und Ratschlägen hingewiesen. Für die Menschen heute drückt es Anselm Grün in seinem Buch "Die hohe Kunst des Älterwerdens" so aus:

"Zuerst mussen wir den eigenen Willen loslassen, dann die Aktivität, dann das eigene Ich und letztlich das Leben."

Um in den Tod einwilligen zu können, müssen Anfechtungen bewältigt werden, die dem entgegenstehen. Auch das teilt der heutige Mensch mit dem des Mittelalters. Ängste, Schuldgefühle, Aggressionen, unbeherrschte Leidenschaften, erfahrene Frustrationen gilt es zu meistern. Die mittelalterliche ars moriendi empfahl zur Unterstützung dieser Bemühungen das Rezitieren geistlicher Texte. Psychologen, Theologen und Ärzte, die eine zeitgemäße ars moriendi entwickeln, empfehlen ebenfalls den Einsatz von Texten. Aber es müssen nicht explizit religiöse sein. So kann ein Gedicht geeignet sein, die Anfechtungen im Blick auf das eigene Sterben zu besiegen. Ein Beispiel dafür ist "Begegnung" von Ernst Ginsberg:

 "aus Beklemmung" von Ernst Ginsberg:

Der Engpass wird enger
Das Atmen wird schwerer
Mein Engel blickt strenger
Kaum kenn ich ihn mehr.
Der Föhn peitscht die Zweige
hinauf und hinab
auf dass er mir zeige
wie nah ich dem Grab.
Vertrautes entzieht sich

Zur Kunst des Sterbens gehörte im Mittelalter nicht nur die zeitnahe Einstimmung auf den eigenen Tod und die Vorbereitung auf das Leben danach. Das Gedenken des Todes war eine lebenslange Aufgabe und Praxis. Geübt wurde sie durch die Lektüre sogenannter Sterbebücher, in denen trauernde Hinterbliebene mit dem Tod ein Zwiegespräch führten, in das sich Gott wertend einmischte. Auch das Betrachten von Totentanzbildern und natürlich auch die ars moriendi-Bücher dienten dazu. Für eine zeitgemäße Kunst des Sterbens empfehlen ihre Vertreter heute verschiedene Mittel der dauerhaften Einstimmung auf das Sterben. Meditation und Kontemplation dienen in diesem Zusammenhang als Wege der Lösung vom Ego und der vertieften Existenzschau.

Auch das Gedenken an die Verstorbenen wird nahegelegt. Die Theologin Dorothee Sölle hat in ihrem Buch "Mystik des Todes" geschrieben, dass die Verstorbenen den Lebenden sagen:

Aus "Die Mystik des Sterbens von Dorothee Sölle:
Was ich gekonnt habe, das wirst du auch können sterben. Es ist eine schwere Arbeit, das Leben loszulassen, aber keine unmögliche.

Die lebenslange Einstimmung auf das eigene Sterben sieht auch die Seelsorgerin in der Hospizarbeit Schwester Margret als geeignet dafür an, dem Tod gefasst begegnen zu können, denn:

Schwester Margret:     
Sterben ist ja Abschiednehmen. Und wir nehmen ein Leben lang Abschied. Es sind große, kleine Abschiede, aber immer wieder Abschiede. Und immer wieder ein neuer Aufbruch. Und ich glaube, wenn wir das ganz bewusst im Leben schon machen und nicht immer dabei sterben, wenn man Abschied nimmt, von irgendeiner Aufgabe oder von irgendeinem Menschen und immer wieder neu angeht, dann ist es auch im Sterben leichter, finde ich.

Solche Abschiede übte die ars moriendi ein. Schrittweise wurde der Tod immer wieder bedacht. Schrittweise und immer wieder wurde die Angst vor ihm überwunden. Im Vollzug dieser Bewältigung kam es schließlich zu einem Punkt, an dem das Diesseits keine Rolle mehr spielte, an dem jede irdische Bindung aufgegeben wurde. Auf den Bildern in den ars moriendi-Büchern wurde das so verdeutlicht, sagt die Literaturwissenschaftlerin Julia Weitbrecht:

Da wird nämlich ein Tuch aufgespannt. Also, wir haben den Sterbenden im Bett, und da wird dann die diesseitige Welt, der Alltag, die Menschen, die einen umgeben, wird abgetrennt, und ab da öffnet sich dann sehr stark der Bildtypus hin zum Jenseitigen, zu den heiligen Helfern, zu Christus am Kreuz oder tatsächlich auch weiterhin zu den Dämonen, mit denen man sich dann auseinandersetzen soll.

Manchmal ist es ein Engel, der das Tuch vor dem Bett des Sterbenden aufspannt, um ihn vom Diesseits - etwa in Gestalt anderer Menschen - abzulösen. Damit er alsbald in Frieden in die jenseitige Welt hinübergehen kann. Das wünschte sich auch Annette Poppe im Hospiz.

Auch wenn sie ungewiss war, was sie erwartete, sagte sie:

Annette Poppe:     
Ich bin froh drum, dass ich das hab, dass ich glauben kann, dass ich hoffe und dass danach irgendwas kommt, was gut ist. Ich hab die Hoffnung, dass es einen Übergang in eine andere Welt gibt.

Es gilt das gesprochene Wort.