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Gunnar Decker: Keiner hat, denk ich, von den deutschen Künstlern seiner Zeit so eine Eindringlichkeit in der Frage, der er nachgeht, also was hat dieser Krieg, diese Zerstörung mit den Menschen gemacht. Mit denen, die im Grab liegen, die tot sind und denen, die überlebt haben, aber innerlich abgestorben. Das ist die ganz ernsthafte, große Frage, was kann man sozusagen auch als Erinnerung von den Opfern behalten, wie muss man es darstellen?
Gunnar Decker, Philosoph und Autor einer Biographie von Ernst Barlach, deutet an, mit welch unnachgiebiger Gründlichkeit der große Bildhauer, Zeichner und eigentümliche Dramatiker den Folgen des Ersten Weltkrieges nachspürte und einen künstlerischen Ausdruck dafür suchte.
Der war durchaus ungewöhnlich. Eines seiner populärsten Werke hängt in einem Seitenschiff des Güstrower Doms - der schwebende Engel: Der Körper wie erstarrt, verborgen in einer keilförmigen strengen Gewandhülle, die Arme kreuzweise dicht an die Brust gezogen, den Kopf aufgereckt, die geschlossenen Augen unter großen Lidern leidgezeichnet. Geradezu unheimlich ruht der schwebende Engel in sich selbst. Gunnar Decker deutet:
Gunnar Decker: Er ist sozusagen in die Horizontale gebracht, und da bleibt er auch. Er hat einen gewissen Abstand zum Boden, aber er wird nicht den Himmel erreichen. Er hat sozusagen eine Flughöhe, die gleich bleibt. Das ist etwas, was diesem Engel sicher auch Gewalt antut. Er ist irgendwie gefesselt. Es kann nach oben, nach unten gehen. Er kann abstürzen, er kann aufsteigen. Aber da, wo er ist, ist er ja auch gar nicht schlecht aufgehoben.
Denn in dieser strengen, unbewegten Waage ist er beinahe eine, wenn auch gewaltlose, Drohung, eine dauernde Mahnung. Als Paradox einer schwebenden Masse, den Betrachtern nur wenig entfernt und doch entrückt: das Sinnbild einer angehaltenen Zeit. So empfand Barlach die Jahre des Ersten Weltkriegs: unheilvoll schwebend. Erstarrt aber auch vom Leid, das der Schwebende gesehen hat und noch sieht. Oder, wie es Barlach 1929 in einem Brief ausdrückte:
„Es galt mir, eine schwer ruhende Unbeweglichkeit als Ausdruck nie versiegenden Grams, hängend, weil der irdischen Bedingtheit entrückt, in den Brennpunkt einer ziemlich kleinen und nur zur Dämmerung erhellten Seitenkapelle des Doms zu bannen.“
(Aus: Gunnar Decker: Ernst Barlach. Aus Barlachs Brief vom 6. Februar 1929 an Karl von Seeger)
Nie versiegender Gram, gebannt in einen tonnenschweren Bronzeguss. Wie unverrückbar. Ein Archetyp der Zeugenschaft von Leid und Zerstörung. Den Betrachter bannend, wie seit Urzeiten bestehend, eine zeitlose seelische Ausdrucksform, eine dauernde Geste. Etwas, was viele Plastiken Barlachs auszeichnet, wie Gunnar Decker feststellt:
Gunnar Decker: Das ist ja das Interessante bei Barlach. Es sind ja nicht nur Kunstwerke, sie haben ja dieses beschwörende Element, Geisterbeschwörung, wenn man so will, etwas Erweckendes auch.
Diese Bannkraft elementarer Ausdrucksformen, diesen Sog, der die Betrachter erfasst, musste sich Barlach erst mühevoll erarbeiten. Hochbegabt, konnte er lange seine künstlerische Handschrift nicht finden. Erst eine Reise im August und September 1906 ins südliche Russland, ins Donezkbecken der heutigen Ukraine, verhalf dem Sechsunddreißigjährigen dazu. Die Steppenlandschaft ergriff ihn. Sie stärkte seinen Sinn für das Ineinander irdischer Begrenztheit und zeitübersteigender Unendlichkeit. Die ausgedehnte, scheinbar unbegrenzte Weite wurde bereits von einer forcierten Industrialisierung bedrängt. Eigentümliche steinerne Figuren standen darin, Zeugnisse eines vor Jahrhunderten geübten Kults: wie Wächter, Übriggebliebene einer anderen Zeit. Barlach beschrieb diese sogenannten Balabanows in seinem russischen Tagebuch:
„Sie haben einen großen Kopf, dessen Form von all den Eindrücken, die über ihn dahin gestrichen sind, ganz abgewaschen ist; so möchte man die blöde Leerheit dieses Antlitzes deuten. Die Arme sind dem Körper anliegend gebildet, und die Hände vereinen sich unter dem vorspringenden Bauche. Sie stehen am Wege wie Bettelmänner, und einer liegt im Weg wie ein Betrunkener. Angesehen und übersehen - sie wissen, wer sie sind, umschlingen einer wie alle ihre Bäuche und gefallen sich wie Einsiedler in der Gebärde eines vollen Selbstgenügens.“
(Aus: Gunnar Decker: Ernst Barlach. Der Schwebende, Barlach über die Balabanows)
In diesem Beharren, unabhängig vom Wandel der Zeiten, von irgendeiner Nützlichkeit sah Barlach so etwas wie reine Existenz, die zugleich über sich hinausweist. Er lernte an diesen Figuren die Reduktion auf das Wesentliche in Formgebung und Gestus. Er erkannte die Balance zwischen Masse und Bewegung. Zurückgestaute seelische Erregung und Kraft, elementares Ergriffensein gestaltet Barlach fortan oft in Form ungewöhnlicher Bewegungen seiner Figuren. Ähnlich den steinernen Kultfiguren, in gewisser Weise ihnen verwandt in ihrer mürrischen Würde und ihrem fraglosen Dasein, erlebte Barlach die Bauern und die Bettler der Steppe. Vor allem die Bettler und mit ihnen die Beter wurden für ihn zum universalen Sinnbild des Menschen. Zurück in Deutschland war eine seiner ersten Skulpturen die „Russische Bettlerin mit Schale“.
„Ein massiger, geradezu fettleibiger Körper, der auf dem Boden fast schon thront und seine Schale eher beiläufig in der Hand hält. Ein auf fordernde Weise harter Gesichtsausdruck, ein erhobener Kopf, und unter dem diesen bedeckenden Tuch blicken die Augen in eine unbestimmte Ferne. Das, was hier naheliegt, der Akt des Bettelns, scheint ganz selbstverständlicher Teil einer Lebensform zu sein, deren Würde unbestritten ist. Barlachs Figuren, die er jetzt schafft, sind auf erdnahe Weise einfach - und weisen dennoch auf eine metaphysische Dimension hin, die sie in sich tragen.“
(Aus: Gunnar Decker: Ernst Barlach, über die „Russische Bettlerin mit Schale“, 1906)
Bauern und Bettler, Singende, Träumende, Duldende gestaltet Barlach nach seiner Russlandreise. Auch Sinnende, Empfangende, den späteren Betern ähnlich, wie einen „Sterndeuter“. Und neben diesen innerlich Zerrissene, Spannungsgeladene, die zu zerbersten drohen wie sein „Berserker“.
„Ein Stürmer und Dränger, aber irgendwie auch blindwütig von einer ursprünglichen Kraft angetrieben. Einer, der zu Gewalttaten fähig ist, ein Krieger in seinem Elementarzustand. Wütend und nicht ganz zurechnungsfähig, aber auch in einem herrlichen Rausch befangen, der ihn rücksichtslos gegen alles und jedem macht. Da schwingt einer sein - unsichtbares - Schwert, er ist gefährlich und will es auch sein. Wen will er treffen? Vielleicht den Strick, der ihn gefesselt hat, oder gleich den gordischen Knoten der Existenz?“
(Aus: Gunnar Decker: Ernst Barlach, über den „Berserker“, 1910)
Oder will er das zu eng gewordene Kleid seiner Zeit zerreißen? 1910, als der Berserker entstand, waren viele in Deutschland - vornehmlich Künstler und Intellektuelle - des Lebens im Kaiserreich überdrüssig. Die Welt schien ihnen luftraubend veraltet. Sie schrie nach Veränderung und sei es durch eine große, alles verwandelnde Katastrophe. Als sie im August 1914 kam, wurde sie begrüßt. Auch von Barlach. Sein „Berserker“ fand in diesem Jahr eine aggressivere Neufassung als „Der Rächer“. Andere Skulpturen und Lithographien sollten den Kampfgeist der Deutschen unterstützen.
Ende dieses ersten Kriegsmonats schrieb er an den Verleger Reinhard Piper:
„Das Erleben dieser ganzen Zeit seit dem 1. August kann ich nur mit einem großen Liebesabenteuer vergleichen, so erschüttert und entselbstet es mich. Es ist ein großes Glücksgefühl, außer sich zu sein, erlöst von sich. Und dies Größere ist etwas Wahres, keine bloße Idee. In den ersten Tagen konnte ich nicht schlafen in diesem Zustand vor Erweiterung.“
(Aus: Gunnar Decker: Ernst Barlach, aus Brief Barlachs an Reinhard Piper, 29. 8. 1914)
Ab Herbst 1915 wandelte sich Barlachs Kriegsbegeisterung zunächst in Skepsis, dann in Ablehnung. Von zu viel Leid hörte er täglich und sah es mit eigenen Augen. Hinzukam, dass er - 45 Jahre alt -, obgleich er es als seine Pflicht angesehen hatte, unter seinem Einsatz beim Militär schwer gelitten hatte. Seiner körperlichen und seelischen Zerrüttung gab er 1919 im Holzschnitt „Christ in Gethsemane“ Ausdruck. Dem Antlitz des ausgezehrten, zu Boden gedrückten, im Gebetskampf Erschöpften gab er die eigenen Züge und verdeutlichte so das Ausmaß seiner durch den Krieg erfahrenen Erschütterung und Ermüdung. Sie dauert an und arbeitet in ihm, wie der Barlach-Biograf Gunnar Decker betont:
Gunnar Decker: Das Entscheidende … ist, dass eigentlich der Krieg bei Barlach nicht aufhört.
Das ist eine tiefe Verarbeitung eigentlich dieser unsichtbaren Seite des Krieges, also das, was an Seelenschmerz und Zerstörung zurückgeblieben ist. Immer noch nach zehn Jahren sind keine Wunden geheilt.
Davon zeugt Barlachs 1927 geschaffener „Schwebender Engel“. Lange schon mit Sterben und Tod befasst und um eine würdige Form des Totengedenkens bemüht, arbeitete Barlach bereits 1918 an einem Kriegsmahnmal, 1921 an einem zweiten für Kiel. Wiederum für Kiel schuf er 1928 ein ganz eigentümliches Mahnmal: den „Geistkämpfer“. Es ist ein zarter Engel mit Flügeln und langem Schwert, der auf dem Rücken eines mythischen Untiers steht. Oder eher aufruht, nahezu schwebt, dennoch voll Macht, das Ungeheuer zu bändigen.
„Lasst die Bestie unter den Füßen des Geistes ja nie wieder los, so mahnt der „Geistkämpfer“. Dieser Engel, auf dem Untier balancierend, der Kämpfer für den Geist, der kein rächender sein will, sondern einer des Friedens, kommt nicht als Sieger (wie der heilige Georg) daher, denn er verfügt über jene strenge Autorität, wie sie nur jener Geist besitzt, der über alle Partei-Interessen hinausgeht. Dieser Geist kommt von weit her aus der Gotik, aber weist ebenso weit hinaus in eine erst noch zu befriedende Zukunft.“
(Aus: Gunnar Decker: Ernst Barlach, über den „Geistkämpfer“, 1928)
Ein Jahr nach dem „Geistkämpfer“ schuf Barlach das Kriegsmahnmal für den Dom in Magdeburg: Sechs Soldaten, in zwei Reihen um ein Friedhofskreuz gruppiert. Die drei der unteren Reihe: ein Skelett wie der Tod persönlich, ein in Entsetzen Erstarrter, ein die Fäuste im Schmerz Ballender, unter einem Tuch verborgen. Die drei darüber dumpf Überlebende, innerlich tot. 1933 wird das Mahnmal aus dem Magdeburger Dom entfernt, 1937 der „Geistkämpfer" vor der Universitätskirche in Kiel. Im selben Jahr der Engel aus dem Güstrower Dom. Als hätte er es geahnt, hatte Barlach ein Jahr zuvor die Figur „Das schlimme Jahr 1937“ geschaffen, eine stumm gewordene Kassandra, eine Mahnerin, die schweigend vom kommenden Unheil kündet. Ausdruck auch der Anfeindung von Seiten der Nationalsozialisten, unter deren Einfluss Barlach mehr und mehr verfemt, bedroht und als Künstler und Mensch um seine Existenz gebracht wurde. 1916 hatte er dem Verleger Reinhard Piper über die künstlerische Verarbeitung des Krieges geschrieben:
„Stillhalten und das Schwere stumm verarbeiten, das ist wohl der große Prozeß, den die Zeit mit den Menschen vornimmt, mit Siegern und Besiegten.“
(Aus: Gunnar Decker: Ernst Barlach. Barlach über künstlerische Verarbeitung des Krieges)
Es gilt das gesprochene Wort.
Musik dieser Sendung:
- Marcin Wasikewski Trio: Vignette (Gary Peacock), CD-Titel: Marcin Wasilewski Trio January, Track Nr. 2.
- Marcin Wasikewski Trio: January (Gary Peacock), CD-Titel: Marcin Wasilewski Trio January, Track Nr. 8.
- Marcin Wasikewski Trio: Balladyna (Gary Peacock), CD-Titel: Marcin Wasilewski Trio January, Track Nr. 5.
Literaturangaben:
Gunnar Decker: Ernst Barlach. Der Schwebende, München 2019.