…und niemand kann mich zwingen

Morgenandacht
…und niemand kann mich zwingen
17.05.2016 - 06:35
27.12.2015
Pfarrerin Melitta Müller-Hansen

Es gibt Lieder, bei denen weiß man nicht so genau, wo sie herkommen. Wer hat den Text geschrieben, wie ist die Melodie entstanden? Wer hat sie vor sich hin gesummt, den Text Stück für Stück zusammengesetzt, bis er am Ende komplett war? Das Lied ist auf einmal in der Welt. Sehr zutreffend nennt man ein solches Lied dann Volkslied. Denn solche Lieder kommen aus dem Volk. Aus vielen Seelen fließt da etwas zusammen: Erfahrungen, Hoffnungen, Sehnsüchte, dunkle Ahnungen. Und einmal in der Welt, singt man Volkslieder über Jahrhunderte und Generationen hinweg. Auch wenn sich die Lebensumstände verändert haben: manch ein Volkslied hat die Kraft, bei Liebeskummer zu trösten, einen Abschied zu verarbeiten. Dem Glück der Heimkehr nach langer Fahrt eine Stimme zu geben, oder der traurigen Realität von Krieg und Gewalt. Was ich besonders liebe an Volksliedern: man weiß manchmal nicht genau, worum es wirklich geht. Sie erzählen eine Geschichte in Bildern. Wie mein siebenbürgisches Lieblingslied:

 

Es saß ein klein wild Vögelein
auf einem grünen Ästchen;
es sang die ganze Winternacht,
die Stimme müßt ihm klingen.

 

Ein kleines Vöglein, das keinen Käfig kennt, ein wildes Vöglein singt in einer Winternacht. Die Melodie dazu ist in Moll, es könnte ein trauriges Lied sein, das Vöglein in Not. Dann verspricht jemand diesem Vöglein Gold und Seide, so etwas wie Unsterblichkeit, Reichtum, Schönheit.

Sing du mir mehr, sing du mir mehr,
du kleines wildes Vöglein!
Ich will dir schreiben auf deine Flügel
mit gelbem Gold und grüner Seide.

 

Ist das ein Dialog zwischen einer jungen Frau und einem reichen Mann? Ein Liebeswerben? Oder geht es um Menschen, denen ein König, ein Fürst, ein Herrscher etwas verspricht? Also Besitztümer um den Preis der Freiheit, denn der Vogel soll ja nur noch für ihn singen?! Die Antwort des Vogels ist deutlich:

 

Behalt dein Gold, behalt dein Seid,
ich will dir nimmer singen;
ich bin ein klein wild Vögelein,
und niemand kann mich zwingen.

 

 

Das Lied endet mit einem großen Vertrauen – in die Freiheit:

 

Geh du herauf aus tiefem Tal,
der Reif wird dich erdrücken.
Drückt mich der Reif, der Reif so kalt,
die Sonn wird mich erquicken.

 

Die Liebe darf der Geliebten die Freiheit nicht rauben. Kein Herrscher dieser Welt darf sein Volk knechten. Ein harmloses kleines Volkslied wird zum Protestlied. Ich poche auf meine Freiheit, wer mich unterdrücken will, hat verspielt.

Der Apostel Paulus hat von solcher Freiheit im biblischen Brief an die Galater geschrieben: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit! Lasst euch nicht wieder zu Knechten machen!“ Kein Religionsgesetz, kein weltliches Gesetz steht über dem Menschen. „Wo Gottes Geist weht, da ist Freiheit!“

Das alles höre ich in meinem siebenbürgischen Lieblingslied mit. Und singe es in dieser Pfingstzeit vor mich hin. Ich will es meinen Kindern beibringen. Ich will es Frauen vorsingen, die sich knechten lassen. Ich will sie teilen meine Freiheit, mit allen Menschen. Aber um keinen Preis der Welt darauf verzichten! Es saß ein klein wild Vögelein…

27.12.2015
Pfarrerin Melitta Müller-Hansen