Mary Oliver

Wort zum Tage
Mary Oliver
04.07.2019 - 06:20
13.06.2019
Rebekka Müller
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Sie steht vor ihrem Haus, ein Notizbuch in der einen Hand, einen Stift in der anderen, und horcht. Auf die Vögel, die Geräusche der Natur. Vielleicht schreibt sie ein paar Sätze. Die Frische des Morgens umgibt sie und lässt sie atmen.

 

Ich stelle mir gerne vor, wie Mary Oliver so da steht und aufmerksam lauscht. Sie war eine US-amerikanische Dichterin und Pulitzer-Preis-Trägerin. Wie kaum eine andere konnte Mary Oliver die Natur um sich herum beobachten und in Worte fassen. Ich liebe es, ihre Gedichte zu lesen. Im Gewimmel der Großstadt komme ich mit ihren Texten für einen Moment zur Ruhe und sehe die Natur so vor mir, wie ich sie aus meiner Kindheit in Erinnerung habe und jetzt zu selten sehe. Ich sehe, was die Dichterin beschreibt: Flüsse, Wasserlilien, Vogeleier, Störche und Sonnenblumen; und die Jahreszeiten. Die Gedichte erzählen von Liebe – von dem Glück, das Mary Oliver in ihrer langjährigen Beziehung zu ihrer Partnerin Molly empfindet. Und von der Trauer, als sie stirbt. Einige Gedichte sprechen auch vom Glauben. Der Überfluss und die Herrlichkeit der Natur sind für die Dichterin ein Gottesbeweis, für den sie sich nicht konfessionell binden muss.

Für mich sind Gedichte von Mary Oliver Gebete, die viele beten können. Die ich beten kann, auch an Tagen, an denen ich zweifle. Eines ihrer Gedichte möchte ich zu übersetzen versuchen. Es heißt „I happened to be standing“, „Ich stand zufällig“.

 

Ich weiß nicht, wohin Gebete gehen

Oder was sie bringen

Beten Katzen, während sie im Halbschlaf in der Sonne dösen?

Betet das Opossum,

während es die Straße überquert?

Die Sonnenblumen? Die alte schwarze Eiche,

die jedes Jahr älter wird?

Ich weiß, dass ich durch die Welt spazieren kann,

am Ufer entlang oder unter Bäumen,

meinen Kopf voller Dinge, die nicht sehr wichtig sind,

und gleichzeitig ganz bei mir selbst sein kann.

Ein Zustand, den ich nicht wirklich „am Leben sein“ nennen kann.

Ist ein Gebet ein Geschenk, oder eine Petition, oder spielt es eine Rolle?

[…]

 

Während ich das alles dachte, stand ich zufällig

gerade vor meiner Haustür, mit meinem geöffneten Notizbuch,

so wie ich jeden Morgen beginne.

Dann fing ein Zaunkönig im Liguster an zu singen.

Er war geradezu durchtränkt von Begeisterung.

Ich weiß nicht, warum. Andererseits, warum nicht.

Ich würde dich nie umstimmen wollen, woran auch immer du glaubst

Oder nicht glaubst. Das ist deine Sache.

Aber beim Gesang des Zaunkönigs dachte ich, was könnte er sein,

wenn nicht ein Gebet?

Also habe ich einfach zugehört, meinen Stift in der Luft.

 

 

Mary Oliver ist in diesem Jahr gestorben. Aber ihre Gedichte bleiben und helfen mir, meine Religiosität und Spiritualität zu erkunden.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

13.06.2019
Rebekka Müller