Überleben für ein paar Stunden

Wort zum Tage

Gemeinfrei via unsplash/ Junior REIS

Überleben für ein paar Stunden
von Pfarrer Michael Becker
06.02.2024 - 06:20
29.12.2023
Pfarrer Michael Becker
Sendung zum Nachhören
Feedback zur Sendung? Hier geht's zur Umfrage! 
Sendung zum Nachlesen

Er sitzt vor dem Geschäft und bettelt. Zusammengekrümmt. Mit Bart und einem alten Hut. Ich sehe ihn schon beim Hineingehen in den Laden. Als ich wieder rauskomme, sitzt er noch genauso da. Ich gebe ihm etwas Geld. Und sehe auf einmal, wie er sich bekreuzigt. Kein Wort, kein Lächeln, kein Kopfnicken als Dank. Nein, er macht ein Kreuzzeichen. Das habe ich noch nie gesehen bei einem auf der Straße. Vielleicht ist er fromm. Er sieht nach Osteuropa aus. Macht man das da? Das weiß ich nicht. Ich weiß aber, dass ich nun länger nachdenke über sein Kreuzzeichen. Das macht man, um den eigenen Glauben zu bekennen und sich unter Gottes Segen zu stellen. Wenn ein katholischer oder orthodoxer Christ in Gottes Nähe ist oder bestimmte Worte hört, macht er oder sie mit der Hand ein Zeichen des Kreuzes auf den Oberkörper. Aber ein Bettler auf der Straße?

Vielleicht will er fromm aussehen. Oder demütig wirken. Es kann viele Gründe haben. Vielleicht macht er mir etwas vor. So etwas kann man denken. Ach, denkt man, der tut nur so. Kann sein. Es kann aber auch ganz ernst sein, voller Achtung. Es kann sein, dass der Bettler sich freut. Über das Geld, natürlich. Dafür gibt es Bier, Brot oder Tabak. Überleben für ein paar Stunden. Ohne weiter überlegen zu müssen, wie man an Geld kommt. Und sich dann vielleicht sogar noch mehr freut, dass einer ihn sieht, ihn ansieht. Ihm in die Augen schaut. Kann doch sein.

Das Wahrnehmen macht den Menschen. Beachten, einander Ansehen. Ohne Dünkel. Ohne abschätzig zu schauen. Das freut einen vielleicht, wenn man zusammengekrümmt an einem Baum sitzt und bettelt. Und ein paar Sekunden Wert erlebt. Als einer, der sich weit unten fühlt. Es geht dann schon nicht mehr um Geld, jedenfalls nicht sofort. Es geht um Erfühlt-Werden von anderen. Das ist so, als sehe Gott einen an. Einander ansehen von Mensch zu Mensch, kein bisschen abschätzig, ist wie ein Blick aus Gottes Augen. Du bist es wert. Wenn man das fühlt, macht man schon mal ein Kreuz mit der Hand. Danke Gott. Überleben für ein paar Stunden.

Es gilt das gesprochene Wort.

29.12.2023
Pfarrer Michael Becker