Von den Toten zum Wir

Von den Toten zum Wir
mit Pfarrer Benedikt Welter aus Trier
12.11.2022 - 23:55
17.05.2022
Benedikt Welter

Einen guten späten Abend, verehrte Damen und Herren,

nach dem WIR – nach dem Zusammenhalt in unserer Gesellschaft hat die ARD Themenwoche gesucht. Heute geht sie zu Ende. Ich denke das Thema einmal von der anderen Seite des Lebens her: vom Tod also – auf der Suche nach dem WIR. Ich stelle die Frage nach den Toten und wie sie uns Lebenden zur Seite stehen damit wir zu einem WIR finden; oder, besser: damit wir mehr WIR leben können.

Über diesem Sonntag steht ja in vielen Kalendern: Volkstrauertag. Das spricht von einer Gemeinschaft: vom Volk; und es sagt zugleich, was dieses Volk tut: „trauern“. Gemeint ist da zunächst die Trauer um die Toten der beiden Weltkriege. Die liegen lange, lange zurück; und dennoch finden Rituale des Totengedenkens statt. Mir zeigt das, wie sehr die Lebensweisheit irrt, dass die Zeit alle Wunden heilt!

Tut sie nicht, die Zeit. Geschichte bleibt. Auch wenn immer weniger Zeitzeugen von den alten Zeiten erzählen können. Aber auf Dachböden oder in Kellern finden sich bis heute immer noch unbekannte Briefe, die erzählen: von Flucht und Alarm, von Luftschutzkellern und von der Front. Und es gibt Lebende, die solche alten Zeugnisse entziffern können und anderen davon berichten. Denn auch heute fragen Menschen nach ihren Urgroßeltern und Ururgroßeltern und nach dem: Wie war das damals?

Die Zeit lässt manche Wunden offen. Geschichte bleibt. Das rufen uns die Toten ins Gedächtnis; und erinnern daran, dass sie nicht vergessen werden wollen. Niemand.

Auch das ist ein Wir. Einen Zusammenhalt über den Tod hinaus können wir Lebende dadurch finden, dass wir an die Toten denken – auch wenn sie lange, lange vor unserer Zeit verstorben sind.

Vor zweieinhalbtausend Jahren hatten die alten Griechen dafür diese Lebens-Weisheit: „Die Zivilisation der Lebenden erkennt man daran, wie sie mit den Toten umgehen.“

In meiner Saarbrücker Pfarrei fand ich da einen seit Jahrzehnten gepflegten Brauch vor: An Allerheiligen zogen wir mit einer Gruppe zu Fuß zu unserer französischen Nachbargemeinde in Spicheren. Treffpunkt: die Friedhöfe. Zunächst der deutsche Friedhof; dann ging es zum französischen cemetière – und dann gab es da eine kleine Parzelle, wo deutsche und französische Soldaten begraben sind: gestorben im Krieg, mit 18, 19, 20 Jahren. Wir haben Grablichter angezündet und gesungen und gebetet – und dann hat die französische Gemeinde zum Abendessen eingeladen. Über das Verweilen bei den Toten führt der Weg zu einem Fest der Lebenden.

Das wäre doch auch ein Weg zu einem WIR und zu einem Zusammenhalt, der die Geschichte und die Geschichten ernst nimmt und die Unterschiede, die nun mal da sind. WIR entsteht, wo Lebende sich von den Toten immer mal wieder etwas milder stimmen lassen: im Blick auf sich selbst und die eigenen Sorgen; im Blick auf den anderen Menschen, wo sie oder er mir fremd, unverständlich, seltsam vorkommt.

Das WIR der Lebenden erkennt man an ihrem Umgang mit den Toten.

Der November lädt ein, in diesem Sinne zivilisierter zu werden: Mit Allerheiligen und Allerseelen hat er angefangen, morgen ist Volkstrauertag und der Totensonntag der evangelischen Schwestern und Brüder eine Woche danach.

Einen gesegneten Gedenk-Sonntag wünsche ich Ihnen – das WIR sollte sich finden lassen!

17.05.2022
Benedikt Welter