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Das weite Meer fasziniert. Eine eigene, fremde Welt, mit weitem Horizont. Die Natur ist wild und echt – und weit weg von jeder Zivilisation. Das Meer lockt mit Einsamkeit und einer großen, unmittelbaren Herausforderung für jeden, der darauf bestehen will.
Diese Seite des Meeres steht zuerst im Mittelpunkt des Films "Styx", der vor kurzem auf DVD erschienen ist. Styx erzählt von einer Frau, die aus der Zivilisation fliehen will, weg vom Stress der Termine und den dauernden Ansprüchen der Mitmenschen. Raus, wenigstens für eine Zeit. Sie will sich der Herausforderung des Meeres stellen.
Man erfährt wenig vom Leben dieser Frau vor ihrer Fahrt, außer dass sie Rike heißt und Notärztin in Köln ist. Rike hat ein klares Ziel: Ascencion Island, eine winzige Insel zwischen Afrika und Lateinamerika. Hier hat Charles Darwin vor etwa 160 Jahren eine Art Garten Eden anlegen lassen, weil die Insel so abgelegen ist. Und den will Rike erleben. Auf dem Weg dahin wird die Einhandseglerin mit der Gewalt des Meeres konfrontiert, sie gerät in einen Sturm.
Solche Geschichten hat das Kino schon mehrfach erzählt: Ein Mensch alleine auf dem Meer, etwa in dem Klassiker "Der alte Mann und das Meer" mit Spencer Tracy, vor ein paar Jahren in "All is lost" mit Robert Redford und gerade vor kurzem in "Vor uns das Meer" mit Colin Firth. Diesmal steht mit Rike eine starke, kompetente Frau im Mittelpunkt. Sie wird von Susanne Wolff gespielt. Die 45jährige spielte mit Stars wie Bastian Pastewka, in "Styx" hat sie kaum einen Partner, der Film gehört fast komplett ihr alleine. Aber dass es diesmal um eine Frau geht, ist nicht der einzige Unterschied zwischen Styx und den anderen Filmen. Es geht diesmal nicht in erster Linie um eine existentielle Erfahrung, die in der Konfrontation mit der Natur gemacht wird, sondern um eine der großen politischen Fragen unserer Zeit. Denn Rike trifft mitten auf dem Meer ein anderes Boot – ein Flüchtlingsboot voller Menschen.
Rike will den Problemen der Zivilisation entfliehen und begegnet einem der größten von ihnen. Was ihr aus Versehen passiert, einem Flüchtlingsboot zu begegnen, das hat Thorsten Kliefoth schon oft erlebt, und absichtlich. Kliefoth ist Notfallsanitäter und mehrfach auf dem Boot Sea-Watch mitgefahren und auf der Moonbird mitgeflogen, einem Flugzeug, das auch von der Evangelischen Kirche in Deutschland finanziert wird. 2015 hat Thorsten Kliefoth damit angefangen, Menschen aus Seenot zu retten. Menschen, die auf der Flucht sind und auf dem Weg nach Europa. Seitdem hat sich vieles verändert.
Thorsten Kliefoth:
Damals, 2015, war die Stimmung ja auch noch durchaus eine andere. Mein erster Einsatz hat stattgefunden auf Lesbos, und die Situation da war damals in den Medien sehr, sehr präsent. Und gerade bei den Flüchtlingen aus Syrien hat man die Notwendigkeit auch sehr viel deutlicher gesehen als man es jetzt bei den afrikanischen Flüchtlingen sieht in der Gesellschaft.
Und nicht nur das gesellschaftliche Klima hat sich verändert, sondern auch der Umgang der Politik mit den NGOs, den privaten Rettern, die sich darum kümmern, Menschen zu helfen, die bei ihrer Flucht nach Europa auf dem Mittelmeer in Gefahr geraten sind.
Thorsten Kliefoth:
Der erste Wandel kam mit diesem Code of conduct. Da gab es also von der italienischen Regierung Vorschriften, wie die NGOs zu verfahren haben. Das hieß unter anderem, dass NGO-Schiffe nicht mehr an die italienische Küstenwache oder an die italienische Marine abgeben dürfen, sondern die Menschen, die sie gerettet haben, selber nach Italien bringen müssen. Danach kam dann ja Salvini ins Amt, und seine erste Amtshandlung war ja, die Häfen zu schließen. Was er im übrigen gar nicht legal kann. Das hatte natürlich zur Folge, dass die Menschen noch länger an Bord waren. Also wir haben, glaube ich, eine Woche vor Syrakus gelegen, in direkter Nähe zum Hafen. Die Menschen haben also die ganze Zeit Europa vor Augen, können nicht verstehen, warum sie nicht an Land dürfen und das erfordert natürlich nochmal eine ganz besondere Betreuung dieser Menschen.
Mehrere Tage, manchmal wie im Januar auch drei Wochen, verbringen die Retterinnen und Retter auf den Schiffen mit den Menschen, die sie aus dem Meer gezogen haben. Dabei hören sie, was diesen Menschen passiert ist.
Thorsten Kliefoth:
Gemeinsamer Nenner ist eigentlich immer: Die Menschen kommen mit irgendwelchen Hoffnungen nach Libyen, die Fluchtgründe sind durchaus unterschiedlich. Sie kommen in Libyen an und erleben da im Prinzip die Hölle auf Erden.
Es ist eine Hölle mit einem ausgeklügelten System, diese Menschen nicht nur festzusetzen, sondern auch auszunutzen.
Thorsten Kliefoth:
Die werden gefangengenommen, auch aus den verschiedensten Gründen, entweder weil sie schwarz sind und auffällig, oder weil irgendein Gefängnisdirektor sein Gefängnis vollkriegen muss, wenn die nächste EU-Kommission kommt, weil davon abhängig ist, wie viel Geld er bekommt. Wenn sie im Gefängnis gelandet sind, werden sie sehr oft gefoltert, häufig vor laufender Handykamera. Die Bilder werden dann den Eltern oder irgendwelchen Freunden oder Verwandten geschickt, um Geld zu erpressen. Wenn sie kein Geld zusammenbekommen, werden sie ins nächste Gefängnis verkauft. Wenn sie im ersten Gefängnis 1.000 Euro zusammenkratzen mussten, sind es im zweiten schon 2.000. Das sind also Geschichten, die wir regelmäßig gehört haben.
Es sind Menschen mit solchen Geschichten, denen die Seglerin Rike in dem Film Styx begegnet, während sie in ihr Paradies fliehen will. Asa Gray, ihr Segelboot, ist zu klein um alle Menschen vom Flüchtlingsboot aufzunehmen. Sie muss sich entscheiden, wie sie sich in dieser Situation verhält.
Der Regisseur des Films Styx, Wolfgang Fischer, hat gesagt, für ihn sei es besonders schlimm, dass er den Film sieben Jahre lang vorbereitet habe – und trotzdem sei er heute noch so aktuell wie 2011. Nichts habe sich in der Zwischenzeit entwickelt, und schon gar nichts sei besser geworden. Thorsten Kliefoth, der auf der Sea-Watch seit 2015 erlebt, wie Menschen nach Europa fliehen wollen, ergänzt:
Thorsten Kliefoth:
Es hat sich deutlich verschlimmert. Die italienische Regierung hat beschlossen, die libysche Küstenwache anzuerkennen, und zu fördern, das hat jetzt zur Folge, dass alle möglichen Seenotfälle, zumindest die Migranten betreffen, an die Zuständigkeit der Libyer abgegeben werden.
Der Film Styx hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten, wie den Preis der Ökumenischen Jury bei der Berlinale 2018 oder Film des Monats September 2018 der Evangelischen Filmjury. Man hat ihn als einen starken Film zu einer grundlegenden ethischen Frage wahrgenommen, als er ins Kino kam. Aber sein Fokus beschränkt sich auf Rike, die Notärztin aus Köln – und mit ihr auf die Europäer, die politisch vor der gleichen Frage stehen, der Rike allein auf dem Meer ausgesetzt ist. Kann ein Film überhaupt auch nur im Ansatz vermitteln, was es bedeutet, auf der Flucht zu sein? Und was es bedeutet, Menschen zu bergen, die so viel Elend erlebt haben, die traumatisiert sind – die gestorben sind? Thorsten Kliefoth, der viele Missionen bei der Sea-Watch und der Moonbird mitgemacht und viele Menschen gerettet hat, glaubt das nicht. Und kann ein Film auch nur im Ansatz etwas politisch verändern? Kann ein Film wie Styx bewusst machen, dass es hier um Menschen geht, die sterben, und dass sich die Politik der EU ändern muss? Thorsten Kliefoth bezweifelt auch das.
Thorsten Kliefoth:
Ich glaube, dass insgesamt die Gesellschaft durch diese Vielzahl an Medien, die auf einen einströmen, abgestumpft ist. Und ich glaube, man erreicht immer die Falschen. Genauso wie in irgendwelchen Podiumsdiskussionen da Menschen erscheinen, die sowieso schon wissen, worum es geht, und man die Leute, wie zum Beispiel Herrn Seehofer durch sowas nicht erreichen würde. Das ist der Grund, warum ich an der Wirkung von solchen Filmen zweifele.
Dabei sieht Kliefoth dringenden Handlungsbedarf bei der Politik und bei der europäischen Gesetzgebung, die Asylsuchende von vorneherein zu illegalen Einwanderern macht. Vor allem bei der sogenannten Dublin III-Verordnung.
Thorsten Kliefoth:
Ich glaube, dieses Gesetz ist schon ein grundsätzliches Problem, an dem man arbeiten müsste. Und dann ist es eben auch so, dass Zusagen nicht wirklich, zumindest nicht zeitnah eingehalten werden. Also, die ersten 32 Menschen, die wir dieses Jahr auf Malta abgeliefert haben, oder vor Malta an die maltesische Küstenwache abgeliefert haben, davon sollten auch einige nach Deutschland kommen. Die sitzen aber immer noch auf Malta.
Und dahinter steht vielleicht das entscheidende Problem überhaupt.
Thorsten Kliefoth:
Ich glaube, das Kernproblem der europäischen Flüchtlingspolitik ist, dass sie nicht solidarisch ist. Wenn Italien nicht das Problem gehabt hätte, alleine praktisch davorzustehen, inzwischen ist es ja auch noch Spanien, und Griechenland ja auch schon lange, dann hätte es wahrscheinlich diese rechten Tendenzen in Italien so leicht nicht gegeben.
Es gibt in den sozialen Netzwerken und von rechtspopulistischen Politikerinnen und Politikern auch immer wieder den Vorwurf, dass gerade Menschen wie Thorsten Kliefoth, die die Menschen auf der Flucht vor dem Ertrinken retten, für die Flucht verantwortlich sind, weil die Fliehenden ja wissen, dass sie gerettet werden. Das sehen verschiedene Studien anders. Oder man wirft diesen NGOs direkt vor, mit den Schlepperbanden zusammenzuarbeiten. Und das ist nicht wahr.
Thorsten Kliefoth:
Es gibt inzwischen eine Untersuchung einer britischen Universität, die keinen Zusammenhang zwischen Präsenz von Rettungsschiffen und Abfahrten aus Libyen festgestellt hat. Als wir unsere Gäste in Catania an Land bringen konnten, ist eine elfköpfige Ermittlungstruppe aus Staatsanwaltschaft und Polizei bei uns zwei Tage an Bord gewesen. Und hat versucht, uns irgendwelche Kooperationen nachzuweisen, oder irgendwas nachzuweisen, um uns dingfest zu machen. Und es ist nichts dabei rausgekommen.
Statt Menschen, die helfen wollen, zu kriminalisieren, wünscht sich Kliefoth etwas anderes von der Politik der EU. Sie müsste in der Außenpolitik sensibler agieren und im Inneren anders kommunizieren.
Thorsten Kliefoth:
Man würde ein Klima wahrscheinlich scheinbar wieder verbessern können, wenn Politiker sich ganz klar gegen rassistische, fremdenfeindliche Äußerungen stellen, aber ich glaube nicht, dass das irgendwelche Menschen überzeugt, sondern einfach nur wieder leiser macht.
Wenn alle, die laut gegen Flüchtlinge schreien, wieder leiser werden würden, wäre die Stimmung in Deutschland und in der EU weniger gereizt. Und alle könnten sich ruhiger den Menschen zuwenden, die Hilfe brauchen, und könnten gemeinsam versuchen, von den Politikerinnen und Politikern ein überzeugendes Handeln für eine stabilere Welt zu fordern. Vielleicht wäre das ein Anfang. Und der Film Styx mit seiner weitgehenden Wortlosigkeit ein guter Beitrag dazu – er macht nachdenklich und lässt nach Antworten suchen statt Parolen zu skandieren.
Es gilt das gesprochene Wort.
Musik dieser Sendung:
- Renfield, Kronos Quartet, Dracula
- Dr. Van Helsing & Dracula, Kronos Quartet, Dracula