Sendung zum Nachlesen
Es muss ein grauer Tag gewesen sein, so genau ist es auf dem alten Foto vom Anfang der 60er Jahre nicht zu erkennen. Es zeigt zwei Grenzsoldaten der NVA, der "Nationalen Volksarmee". Sie schauen über das geteilte Berlin, und stehen weit oben hinter der Brüstung eines 75 Meter hohen Kirchturms. Von dort haben sie einen guten Ausblick. Zwei Meter über ihnen ist das riesige Zifferblatt der Turmuhr in die Backstein-Fassade eingelassen. Die Uhr, auf dem Foto, zeigt Punkt zwölf.
Dieses Gotteshaus, die neugotische Versöhnungskirche, gibt es nicht mehr. Sie stand direkt im Grenzstreifen der Berliner Mauer, und wurde 1985 gesprengt. Aber die kleine Versöhnungsgemeinde gibt es noch. Sie zeigt auf ihrer Website das alte Foto vom Turm mit den Grenzsoldaten, unter der Uhr.
Es ist dort zu lesen, dass die Uhr seit dem Bau der Mauer, 1961, niemand mehr aufziehen konnte. Die Kirche stand direkt am Ost-Berliner Bürgersteig der Bernauer Straße. Die ist über Nacht zur Staatsgrenze geworden. Das Gotteshaus wurde eingemauert. Die Uhr, hoch oben am Turm, blieb stehen. Ihre unbeweglichen Zeiger wurden zum Sinnbild für die Jahrzehnte der Stagnation, im Kalten Krieg.
Und doch werden bis heute berührende Geschichten darüber erzählt, welche Bewegung die Herzen der Einwohner erfasste, in Ost und West. Unmittelbar nach dem Mauerbau begannen die Versuche, trotz aller Widrigkeiten mit den Verwandten und Freunden auf der anderen Seite in Kontakt zu bleiben. Mit dem Stillstand der Zeit setzte das Sehnen ein: Dass wir den Tag noch erleben, an dem die Mauer fällt, und die Grenze verschwindet.
Der Sturz der Mauer jährt sich nun zum 30. Mal. Die Versöhnungsgemeinde entdeckte in einem Keller die alte Turmuhr wieder. Sie war noch kurz vor der Sprengung der Kirche ausgebaut worden. Jetzt wird das Uhrwerk restauriert. Mit Hilfe der Spendenaktion "Uhr der Versöhnung" sollen sich die vor 58 Jahren stehengebliebenen Zeiger bald wieder bewegen.
Es ist eine der vielen Geschichten, die in diesem Gedenkjahr der Friedlichen Revolution wieder lebendig werden. Bilder vom Alltag mit der Grenze kommen neu in den Blick, wie dieses vom eingemauerten Kirchturm, und den Wachsoldaten unter der Turmuhr. Das alte Foto birgt die Ahnung, dass der Wunsch nach Freiwerden aus einer inneren Energie kommt. Stärker als der soldatische Kontroll-Blick hat sich die Kraft der Sehnsucht erwiesen, die mit dem Unmöglichen rechnet. Im biblischen Wort für den heutigen Tag heißt es vom Dichter des 130. Psalms:
Meine Seele wartet auf Dich, Gott,
mehr als die Wächter auf den Morgen.
Es gilt das gesprochene Wort.