Sendung zum Nachlesen
Schulzeit – das ist der Stoff, aus dem schon viele Alpträume gemacht wurden: „Bitte konjugiere das Verb laudare im Konjunktiv!“ „Nenne alle Hauptstädte Europas!“ „Zur Herstellung einer Garageneinfahrt benötigen drei Pflasterer 7,5 Stunden. Wie lange würde die Arbeit dauern, wenn 5 Pflasterer eingesetzt werden können?“ Aber dann - nach dem Aufwachen erleichtert feststellen: Das war ja nur ein Traum! Ich bin jetzt über 60 Jahre alt, und kein Lehrer nirgends, der mich fragt und an die Tafel bittet, keine Lehrerin, die mit strengem Blick ihr kleines Büchlein zückt und hinter meinem Namen eine unschöne Bemerkung einträgt, weil ich wieder mal alles nicht gewusst habe. Nie mehr mit schlechtem Gewissen morgens in die Schule hetzen. Nie mehr die bleierne Langeweile der Schulstunden ertragen und sich dem Pausenzeichen entgegensehnen! Alles überstanden! Nur noch Stoff für Alpträume – und doch gut, dass es sie gibt: die Schulpflicht und die Schulzeit.
Warum Erwachsene dafür zu sorgen haben, dass ihre Kinder regelmäßig eine Schule besuchen – Martin Luther hat sich darüber gründlich Gedanken gemacht. Er war überzeugt davon: Wer seine Kinder nicht zur Schule schickt, verhält sich „greulich unchristlich“, ja, er tut „aller Welt großen mörderischen Schaden.“ Mit Schrecken beobachte er, dass der „gemeine Mann sich ablehnend dazu stellt, die Schulen zu erhalten.“ Er sei entsetzt darüber, dass „Kinder ganz und gar von der gelehrten Ausbildung“ abgehalten würden und ihnen von ihren Eltern beigebracht würde, „sich allein um die Nahrungs- und Bauchsorge“ zu kümmern.
Nur aus gut ausgebildeten Schülern, so Luthers Argument, könnten dereinst verantwortungsvolle Pfarrer werden. Wer den rechten Glauben unter die Menschen bringen wolle, dem muss unbedingt an einer fundierten Ausbildung der zukünftigen Geistlichen liegen. Aber mehr noch. Auch ein Staat, der funktionieren soll, braucht gute Schulen. Investiert in die Bildung statt in die Rüstung, lautet Luthers Programm. „Faust und Harnisch tun‘s nicht, es müssen die Köpfe und Bücher tun. Es muss gelernt und gewusst sein, was unsers weltlichen Reichs Recht und Weisheit ist.“ Darum hielt nur „ein grober, undankbarer Klotz“ seinen Sohn vom Schulbesuch ab. „Es ist jedenfalls eine schändliche Verachtung Gottes, dass wir solche herrlichen göttlichen Werke unsern Kindern nicht gönnen. Darum lass deinen Sohn getrost studieren. Es wird doch dabei bleiben, dass dein und mein Sohn, das heißt: einfacher Menschen Kinder, werden die Welt regieren müssen, sowohl in geistlichem wie in weltlichem Stande.“
Sich nur um „Nahrungs- und Bauchsorgen zu kümmern“ – das hielt Luther für zu wenig. Ja, er fand, dass es geradezu schändlich sei, den Kindern nichts beizubringen, sie einfach so vor sich hin leben zu lassen, ihren Verstand nicht zu fordern. Köpfe und Bücher statt „Faust und Harnisch“. Gönnt den Kindern den Luxus, lernen zu dürfen.
Konjunktiv, Hauptstädte und Dreisatz – als Kind und Jugendlicher sieht man es nicht immer ein, dass es ein Luxus ist, lernen zu dürfen statt arbeiten zu müssen. Aber wenn man einmal aus dem Alptraum aufgewacht ist, bleibt Dankbarkeit denen gegenüber, die sich mit uns abgemüht haben. Die mit aller Geduld Vokabeln abgefragt haben und nachsichtig waren, als wir die schönste Literatur mit pubertärem Desinteresse betrachteten. Die uns Zeit geschenkt haben, dass wir uns mit solchen Dingen beschäftigen konnten wie mit der Form der Staubblätter der Kirschblüte, mit der chemischen Formel der Fotosynthese, mit dem Herrn von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland.
Die Sommerferien – soweit ich mich daran erinnere eine wunderbare Zeit: keine Schule, kein frühes Aufstehen, keine Lehrer, keine Zensuren. Aber wenn die nach unendlichen sechs Wochen vorüber ist – dann beginnt der wahre Luxus: das Lernendürfen.
Es gilt das gesprochene Wort.