Sendung zum Nachlesen
Warteschlangen können furchtbar sein. "Hier nicht mehr anstellen bitte", ruft die Kassiererin im Supermarkt, und mein Zeitplan gerät vollends durcheinander. Hinter mir wird geschimpft und genörgelt. Und ich hätte nicht übel Lust, einzustimmen in diesen Chor der Frustrierten.
Von Gemecker und Protest in einer Warteschlange handelt auch eine biblische Geschichte. Jesus hat sie erzählt. Und die geht so:
Ein Winzer hat Hochsaison. Im Weinberg wird jede verfügbare Hand gebraucht. Die Trauben müssen unbedingt geerntet werden. Der Winzer also frühmorgens dahin, wo man Leute findet. Auf den Marktplatz. Kurze Verhandlung, und der Deal ist perfekt: Man einigt sich auf den üblichen Tageslohn.
Gegen Mittag merkt der Winzer, dass er noch mehr Leute braucht. Er also wieder hin zum Marktplatz. Und weil er offensichtlich eine ziemlich soziale Ader hat, stellt er den zusätzlich angeworbenen Arbeitern auch den kompletten Tageslohn in Aussicht.
Kurz vor Feierabend entschließt sich der Weinbergbesitzer zu einem Schritt, der betriebswirtschaftlich wohl ein absolutes NoGo ist. Er braucht Leute, solange es noch hell ist. Er also wieder dahin, wo die Arbeitslosen herumstehen und andere an Theken sich den Schaum von den Lippen wischen. Und tatsächlich: Er findet Leute, die bereit sind, so kurz vor Feierabend noch sich die Hände schmutzig zu machen. Und er ist bereit, auch diesen den Lohn für einen ganzen Tag zu bezahlen.
Dann ist endlich Feierabend, und die Arbeiter stehen in langer Schlange vor der Kasse, denn der Lohn wird cash ausbezahlt. Erst warten sie geduldig, bis der Chef mit den Lohntüten kommt. Ich kann mir gut vorstellen, wie die Ganztagesarbeiter mitleidig auf die Kurzarbeiter geguckt haben: Du meine Güte, so kurz vor Toresschluss hier noch aufzuschlagen - für die paar Kröten wird sich das doch gar nicht gelohnt haben.
Dann geht es los mit Abrechnung und Auszahlung. Und die Augen werden größer, die Ohren gespitzter, die Furchen auf der Stirn tiefer – das kann doch nicht sein: Alle kriegen dasselbe! Acht Stunden – vier Stunden – eine Stunde – egal!
Das Erstaunen schlägt in Empörung um. Protest. Der Chef wird zur Rede gestellt. Es wird nachgefordert. Wo käme man da auch hin, wenn Leistung sich nicht lohnen würde.
Der Chef aber bleibt ganz cool. "Hast du nicht gekriegt, was abgemacht war? Kann ich meinen Personalkostenapparat nicht so gestalten, wie ich es will?" Und dann sagt er einen tollen Satz: "Kannst du etwa meine Güte nicht aushalten?" Im griechischen Urtext der biblischen Geschichte steht: "Ist dein Auge so dunkel, weil ich gütig bin?"
Ist das nicht eigenartig? Das unverdiente Glück anderer Leute wird nicht hingenommen. Manch einer kriegt das überhaupt nicht hin. Glückliche Ehe. Gesunde Familie. Erfolgreich im Beruf. Meinetwegen auch Jackpot beim Lotto. "Warum der?" "Warum nicht ich?". Neidvolle Frage. Die macht schon mal das Auge dunkel und verfinstert den Blick.
Dabei ist es doch so: Die Anerkennung, die mein Kollege für seine Arbeit bekommt, geht nicht auf meine Kosten. Das Glück des anderen schadet mir niemals.
Wenn Jesus solche Geschichten erzählt, dann will er seinen Zuhörern immer auch eine Information über Gott geben:
Das Wesen Gottes ist – provozierende Güte! Menschen haben ihr Urteil über andere manchmal schnell gefällt. Aber Gott wertet anders. Gütig wertet er die Menschen, nicht die Leistung.
Und so ist dieser Bibeltext auch eine Geschichte, die dazu anleiten will, einander neu wahrzunehmen. Anders zu werten als bisher.
Wenn ich das versuche, dann freue ich mich mit, wenn ich bei jemandem feststelle: Der hat aber unverdient Glück gehabt. Und diese Freude ist groß: Am Glück auch des anderen wird etwas von Gottes Güte erkennbar.
Ich bin überzeugt: Dann ist kein Blick mehr finster. Und die Welt lässt sich etwas heller sehen.
Es gilt das gesprochene Wort.