Wort zum Tage
Gemeinfrei via unsplash/ Dmitry Vechorko
Mutige Bahn-Belarussen
von Pfarrer Thomas Jeutner
20.04.2022 06:20
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Mein Eisenbahnerkollege Erwin hat mir alles beigebracht, was ich als Bahnlehrling wissen musste. Wir gehörten damals, Ende der 70er Jahre, zur Signal- und Fernmeldemeisterei Mahlow, im Süden von Berlin. Um Signalfernsprecher zu reparieren, sind wir kilometerweit die Strecke abgelaufen. Kam ein Zug, wussten wir es vorher. Wir verließen die Gleise, warteten die Durchfahrt ab, und marschierten weiter. Für mich gab es keinen Tag meiner drei Lehrjahre, der nicht etwas Neues bereithielt. Seien es Fragen der Technik, des Transportes oder der Eisenbahngeschichte. Die Hauptsache aber, die ich von Erwin lernte, war die Hingabe an unseren Beruf. Mein Kollege verkörperte die Liebe zur Bahn.

 

Seine Ausbildung bekam er noch in der Weimarer Republik. Seitdem kannte er in unserer Reichsbahndirektion jedes Stellwerk, jede Fernmeldewerkstatt. Wenn es nach einem Blitzschlag Kabelfehler gab, wurden die Gleiskarten zu Hilfe geholt - und Erwin. Sein Wissen war unschätzbar. Etwas Defektes zu reparieren, war unsere Aufgabe - und eine Sache der Ehre.

 

Erwin ist längst gestorben. Aber in diesen Tagen habe ich mich an ihn erinnert. Denn die Ehre der Eisenbahner Europas hat Geschichte geschrieben, in der dritten Woche des Krieges. In Belarus wurden alle Grenz-Verbindungen in die Ukraine unterbrochen. Gleise und Stellwerke wurden unbrauchbar gemacht für die russischen Streitkräfte. Der Nachschub mit Kriegsgerät wurde unterbunden. Die belarussischen Eisenbahnkollegen, die früher alles einsetzten, um die Sicherheit des Bahnverkehrs zu gewährleisten, setzten nun ihr Leben ein für die Sicherheit der ukrainischen Bevölkerung. Sie blockierten Schaltanlagen und Schienenabschnitte. Es kam zu Kurzschlüssen. Lokführer verweigerten den Dienst. Es gab zerstörte Signallichter. Fahrpläne wurden durcheinandergebracht.

 

Der gewaltlose Widerstand von belarussischen Frauen und Männern der Bahn sei die größte Anti-Kriegsaktion in der Eisenbahngeschichte, hieß es später in der belarussischen Opposition. Als ich die Meldungen von den blockierten Gleisen hörte, spürte ich wie damals in meiner Lehrzeit bei Erwin ein tiefes Wir-Gefühl. Und die Gemeinschaft der Menschen bei der Bahn. Die mutigen Bahn-Belarussen konnten den Krieg nicht verhindern. Aber sie haben ihn erschwert. Sie werden den letzten Prosatext des deutschen Dichters Wolfgang Borchert aus dem Jahr 1947 nicht gekannt haben. Ich musste an ihn denken. Darin heißt es:

 

"Du. Mann auf dem Bahnhof. Wenn sie dir

morgen befehlen, du sollst das Signal zur Abfahrt

geben für den Munitionszug und für den

Truppentransport, dann gibt es nur eins:

Sag NEIN!" (1)

 

 

 

Literaturangaben:

  1. Oktober 1947, zitiert aus: Wolfgang Borchert, Das Gesamtwerk, Rowohlt 1986, Seite 318 ff.

Es gilt das gesprochene Wort.