Gemeinfrei via unsplash/ Alex Azabache
Möglichkeitssinn
Gedanken zur Woche von Pfarrerin Jula Well
05.08.2022 06:35
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Von einem Sommerloch kann für mich in diesem Jahr keine Rede sein. Im Gegenteil, jeder Tag bringt neue, wichtige Nachrichten: Krieg in der Ukraine, Energiekrise, Hungerkrise und wieder von vorn. Krieg und Krisen und die Bevölkerung wird ernsthaft darauf vorbereitet, dass alles teurer und manches kälter wird, dass der Weg noch beschwerlicher wird und lange dauert. Keine Rede also von einem Sommerloch – wohl eher von einer tiefen Grube, gefüllt mit Sand, in dem man einsinkt und kaum vorankommt.

So kommt mir die politische Lage gerade vor. Wie das Waten durch eine tiefe Sandgrube. Jeder Schritt ist eine große Mühe. Es ist extrem anstrengend, vorwärts zu kommen. Und den Blick immer nur auf den nächsten Schritt gerichtet und wieder auf den nächsten, erscheint einfach kein Ende in Sicht. Dabei wäre es doch gerade jetzt so wichtig, vorausblicken zu können und das Wozu zu sehen. Gegenwart braucht Zukunft. Ohne eine Zukunft, für die sich die Gegenwart öffnen könnte, wird das das Hier und Jetzt sonst als sinnlos erlebt, als unnütz, vergeblich.

In der biblischen Erzählung von der Wüstenwanderung des Volkes Israel gibt es den Blick nach vorn. 40 Jahre lang, so ist überliefert, läuft das Volk durch die Wüste. 40 Jahre Sand treten, da haben viele schon vergessen, warum sie sich einst auf den Weg gemacht hatten. Es wird gemurrt. Manche wollen am liebsten wieder umkehren, zurück zu den sprichwörtlichen Fleischtöpfen Ägyptens. Doch in die verklärte Vergangenheit führt kein Weg zurück. Die Aussicht auf Zukunft aber hilft durchzuhalten. Am Ende des Weges, so erzählen sich die Wüstenwanderer, liegt das gelobte Land. Ja, eines Tages werden wir es geschafft haben; dann werden Milch und Honig fließen. Mit dieser Aussicht halten sie sich aufrecht. Ganz so idyllisch wurde es dann nicht, auch davon wird in der Bibel erzählt, aber immerhin, eines Tages sind die Gefahren der Wüste überwunden und sie erreichen wirklich das gelobte Land. 

Die Aussicht auf das, was möglich ist, verändert die Wahrnehmung der Gegenwart. Das Hier und Jetzt erscheint als vorübergehend und überholbar, und gerade in einer bedrückten Gegenwart brauchen Menschen den Möglichkeitssinn; den Ausblick auf das, was sein könnte. Also halte ich Ausschau.  

In den Nachrichten wird berichtet von der Tournee des Ukrainian Freedom Orchestra, des ukrainischen Freiheitsorchesters. Führende ukrainische Musiker und Musikerinnen haben sich zusammengeschlossen, um mit ihrer Musik auf den Krieg in der Ukraine aufmerksam zu machen. Vor wenigen Tagen begann die Tournee des Freiheitsorchesters in Warschau. Warschau gehört zu den vielen Städten, die im Zweiten Weltkrieg von deutschen Truppen in Schutt und Asche gelegt wurden. Das ist ein bedrückender Blick zurück. Waldemar Dabrowski aber, Generaldirektor des Warschauer Nationaltheaters, wendet seinen Blick nach vorn. Kurz vor der Premiere des Freedom Orchestra sagt er dort: "Wir bitten unsere ukrainischen Freunde, schaut auf uns in Warschau und glaubt, dass alles möglich ist. Baut die Städte wieder auf und füllt sie mit Leben. Es ist real und es ist machbar.«

Endlich eine Aussicht. Zerbombte Städte können wieder mit Leben gefüllt werden. Das ist ein Bild von Zukunft, das ich für die Gegenwart brauche. Die Worte aus Warschau wecken den Möglichkeitssinn in mir.

Eines Tages wird der Krieg vorbei sein. Und eines Tages – ja, zugegeben, ich wage mich jetzt sehr weit vor –, aber eines Tages, da sitzen die Eltern eines gefallenen ukrainischen Soldaten mit den Eltern eines gefallenen russischen Soldaten an einem Tisch. Sie weinen miteinander. Es tut noch weh, aber sie hassen sich nicht. Das mag hier und jetzt geradezu träumerisch klingen. Aber es liegt doch im Bereich des Möglichen. Und mit solch einer Aussicht, mit diesem Bild von Frieden und Versöhnung vor Augen, komme ich etwas besser durch die bedrückte Gegenwart.

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