Einen guten späten Abend, verehrte Damen und Herren,
"Kein Tach ohne Bach". Also: Kein Tag ohne Bach, den großen Komponisten Johann Sebastian. Seine Musik spricht an, und seine Texte haben was zu sagen; auch heute noch.
Letzten Samstag habe ich in der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche einen Kantatengottesdienst mitgefeiert. Wie der Name sagt: ein Gottesdienst, in dem eine Kantate von Johann Sebastian Bach sozusagen im Mittelpunkt steht. Ein Satz in der Kantate vom Sonntag hat es mir angetan: "Der du von Ewigkeit in der Entfernung schon mein Herzeleid und meine Leibespein umständlich angesehn …" Das singen zwei Frauenstimmen. Ein mehrstimmiges ICH also. Ich kann darin Menschen hören, denen eigentlich kaum nach Singen zu Mute ist, die aber "Herzeleid und Leibespein" nur zu gut kennen. Ja, klar, da gehen meine Gedanken auch Richtung Ukraine. Da rufen ungezählte "Ich" Stimmen; deren Namen sind mir unbekannt; Menschen, die mit einem Leid und einer Pein geschlagen sind, die ich kaum ermessen kann – die ich bestenfalls erahne.
Es sind "Ich"-Stimmen, in denen ich auch den wohnungslosen jungen Mann höre, der mir an der S Bahn-Station begegnet ist: Er spricht vor sich hin: "Können Sie mich nach Hause bringen?" Dann spricht er mich an: "Haben Sie eine Zigarette" und so wechselt er zwischen vor sich hinreden und andere ansprechen. Auch da passen eigentlich die beiden altertümlichen Worte der Bachkantate: "Herzeleid" und "Leibespein".
Der Clou dieses Textes: Er traut Gott zu, dass er die vielen ICHS schon von Ewigkeit anschaut – und zwar: UMSTÄNDLICH! Dieses "Umständlich" hat drei Bedeutungen: es traut Gott zu, dass er die Not sieht – sogar aus seiner gefühlt unendlich großen Ferne. Aber wie er das tut, macht es für den Betroffenen oft umständlich und ziemlich schwer. Gott wirkt nicht sofort; ruft mehr Fragen hervor als Antworten; kommt dem ICH so weit weg und unbeeindruckt vor.
"Umständlich" heißt aber auch: Gott schaut mich so an, wie es meinen Umständen entspricht. Gott schaut, was ich brauche, er weiß, worin ich mich bewege mitten in einem Leben, das so oft verworren und undurchsichtig ist. Aus göttlicher Entfernung blickt Gott mitten in das hinein, was für mich undurchschaubar bleibt. Und schließlich: "umständlich" heißt auch: Ich erfahre, dass Gott um mich herum steht – mich tröstet und schützt von allen Seiten. So will Gott mich bergen und Unheil abwenden.
"Kein Tach ohne Bach". Musik und Worte, die bewegen und meine Gedanken zum Schwirren bringen über mein kleines ICH hinaus: "Der du von Ewigkeit in der Entfernung schon mein Herzeleid und meine Leibespein umständlich angesehn …" Ein Satz, der glaubwürdig davon spricht, wie Gott für mich und die Menschen da ist und sich engagiert:
Jedes ICH ist von diesem Gott schon gehört, ehe es auch nur anfängt, sein Herzeleid und seine Leibespein zu beschreiben.
Jedes ICH darf darauf setzen, dass Gott sich ihm zuwendet. Schmerzhaft umständlich lange kann das manchmal dauern; sehr umständlich mögen meine eigenen Umstände sein; schützend umständlich will es mich umgeben.
"Kein Tach ohne Bach". Da könnte jeden Tag etwas an mein Ohr dringen, was mich in diesem Glauben an einen Gott beschwingt, dem kein ICH egal ist. Wie es am Schluss dieses ICH-Duetts in der Kantate heißt: "Und lass durch deine Wunderhand, die so viel Böses abgewandt, mir gleichfalls Hilf und Trost geschehen."
Einen gesegneten Sonntag wünsche ich Ihnen.
Saarländischer Rundfunk (SR)
Redaktion: Barbara Lessel-Waschbüsch
Katholischer Senderbeauftragter für Das Wort zum Sonntag für den SR
Wolfgang Drießen, Bistum Trier
Katholische Rundfunkarbeit
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