Gemeinfrei via unsplash/ Pascal Debrunner
Flauschen oder fressen?
Der Mensch lebt nicht vom Tier allein
29.10.2023 07:35
Sendung nachlesen:
 

Bei manchen Fragen muss man von vorn beginnen. Am Anfang.

Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde, Gräser und Tiere. Dann kam der Mensch. Der Mensch fand, er sei die Krone der Schöpfung: Das Beste kommt zum Schluss, oben auf dem Siegertreppchen. Ein gehöriges Maß Selbstbewusstsein hatte der Mensch von Anfang an. Gott kann sich nicht erklären, woher das kommt. Von ihm jedenfalls nicht. Obwohl er natürlich diesen Satz gesagt haben soll: „Macht euch die Erde untertan.“

Möglicherweise war das rhetorisch etwas unüberlegt, denn damit war für den Menschen die Sache klar: Der Rest möge bitte nach seiner Pfeife tanzen. Er weiß, wo es langgeht. Der Mensch fand, er sei prädestiniert dafür, über die Erde zu herrschen, und wenn er schon nicht die Nummer eins war (denn das war immer noch Gott), dann doch wenigstens Nummer zwei. Der verlängerte Arm Gottes, Stellvertreter des Allmächtigen. Ein Hausverwalter auf Erden, während Gott sich um den Himmel kümmert.

Im Paradies war es dem Menschen zu eng geworden - zu viel Bevormundung, zu wenig Handlungsspielraum. Auch beim Essen. Gott hatte gesagt: „Als Nahrung gebe ich euch die Samen der Pflanzen und die Früchte, die an den Bäumen wachsen, überall auf der ganzen Erde.“ Richtig gehört: Alles vegan.

„Na schönen Dank auch!“, hatte der Mensch gesagt. Vorschriften mochte er von Anfang an nicht, und als die Sache mit dem Apfel eskalierte, flog er raus.

 

Vor den Toren des Paradieses ging es ruppiger zu: Ab jetzt musste das erste Menschenpaar im Schweiße des Angesichts arbeiten und unter Schmerzen Kinder gebären. Die Erlaubnis, Tierfleisch zu essen, wurde dem Menschen erst nach der Sintflut erteilt. Als sowieso alles schon den Bach runtergegangen war. „Sehr gut“ war da schon lange nichts mehr.

Der Mensch nahm sein Leben also selbst in die Hand und fing an zu bestimmen: Dass der Rest der Schöpfung ihm zu Diensten sein möge. Das Rind fürs Steak, das Huhn fürs Ei, die Bienen fürs Honigbrot und der putzige Pandabär, damit es auch mal was zum Lachen gibt. Er erfand den Hamburger für ein Euro neunundneunzig und Chicken Wings to go.

Dabei hatte der Mensch eins übersehen: Er war gar nicht die Krone der Schöpfung. Am sechsten Tag hatte Gott den Menschen gemacht, zusammen mit den Landtieren. Exklusiv sieht anders aus. Und erst danach, erst am siebten Tag vollendete Gott sein Werk. Indem er ruhte. Da wurde nicht gebaut, gepflanzt, erdacht. Da passierte einfach gar nichts. Es entstand ein Tag ohne Zweck.

Gott befand: „Der siebte Tag ist ein Ruhetag (…). An diesem Tag sollst du nicht arbeiten, weder du noch deine Kinder, weder dein Knecht noch deine Magd, weder dein Rind noch dein Esel noch ein anderes deiner Tiere.“

Ein Tag, der das Dasein preist, ein Dasein, das nichts und niemandem zu Diensten sein braucht. „Genau“, rief eine Herde Schafe, „wir wollen auch einfach da sein!“ Die anderen Tiere schlossen sich an. „Genau“, riefen auch die Rinder, „wir sind nicht für eure Grillpartys da!“

 

Der Papst stimmt ihnen zu: „Der letzte Zweck der anderen Geschöpfe sind nicht wir“, schrieb Franziskus in seiner Enzyklika „Laudato si“, wenn auch ein paar tausend Jahre später.

Die Menschen fanden das polemisch. Der Wolf isst das Schaf, weil er leben will, der Löwe die Antilope und der Mensch sein Schnitzel. So ist das nun mal. Irgendwer muss immer dran glauben.

 „Moment!“

Autorin: mischt sich ein Engel aus der Abteilung Ethik ein.

„Wir sollten uns die Problemstellung und die Quellenlage ansehen unter besonderer Berücksichtigung der westlichen Hemisphäre. Einerseits: Fleisch schmeckt gut. Besonders, wenn es mariniert bei 80 Grad sanft im Ofen schmort. Andererseits: Darf der Mensch ohne Not über die Tiere verfügen? Meine Herren, meine Damen, nach mehrtausendjährigem Quellenstudium komme ich zu folgenden Schlüssen: Der Mensch ist ein Tier unter Tieren. Der Mensch hat herausragende Eigenschaften, beispielsweise hat er das Rad erschaffen, das Differentialgetriebe und Häkeln mit dem Fischgrätmuster.

Vor allem hat der Mensch die theoretische Fähigkeit, sein Tun zu reflektieren. Das scheint sein Alleinstellungsmerkmal zu sein (auch wenn es nicht immer Anwendung findet). Tiere haben andere Alleinstellungsmerkmale: Mauersegler zum Beispiel fressen, schlafen und paaren sich im Flug. Der nordamerikanische Waldfrosch friert Atmung, Hirnfunktion und Herzschlag ein und taut im Frühjahr wieder auf. Der Helmbasilisk kann bis zu zehn Meter weit übers Wasser rennen, ohne zu versinken. Das könnte auf einen Gleichstand hinauslaufen.

Es scheint aber noch ein weiteres Alleinstellungsmerkmal des Menschen zu geben: seine Empfindlichkeit. Der Mensch ist schnell beleidigt. Er möchte etwas Besonderes sein, er möchte sich abheben von den anderen Geschöpfen, und ich spreche hier bewusst verallgemeinernd von Geschöpfen, weil alle aus demselben Lehm – oder wem das zu naiv klingt – aus derselben Materie stammen. Ich zitiere aus der Bibel Prediger 3,19: ‚Es geht dem Menschen wie dem Vieh: Beiden gab Gott das Leben, und beide müssen sterben. Der Mensch hat dem Tier nichts voraus.’ So unangenehm es klingen mag: Tier und Mensch sind Geschwister. Sie tragen denselben Fingerabdruck Gottes.“

Hier endet der Engel seinen Vortrag und verlässt die Bühne, ohne auf Applaus zu warten. Eine Kakerlake applaudiert dennoch, und der Engel verbeugt sich.

„Mit Verlaub“, meldet sich ein Inuit zu Wort. „Ich würde auch lieber Salat essen als Robbe. Aber in meinem Vorgarten wächst kein Salat.“

Ich mag Salat. Der Supermarkt in meiner Stadt bietet alles, was ich will: Haferflocken und Räuchertofu. Mohrrüben und Spritzgebäck. Und natürlich ein Kühlregal voller Schinken, Schnitzel, Suppenhühner. Ich bin, seit ich 16 bin, Vegetarierin. Ich hatte das nicht geplant, zufällig sah ich eine Doku über Massentierhaltung. Zum ersten Mal sah ich Ställe ohne Tageslicht, tausende Puten auf engstem Raum, zerhackte Körper. Schweine, die in Käfigen vegetieren, in denen sie sich nicht mal umdrehen können. Ohne Betäubung abgeschnittene Schwänze und Hörner. Tiere, die in Panik zum Schlachten gepfercht werden.

Ich glaube niemandem, der sagt, das sei okay.

Ich fand es nicht okay, ich fand es schrecklich. Auf der anderen Seite gehörten Kotelett und Hackbraten zu meinen Leibgerichten. Außerdem hatte ich gerade den ersten Döner meines Lebens gegessen und fand die Vorstellung, gleich wieder damit aufzuhören, einen Jammer.

Ich hätte die Doku gern verdrängt. Menschen sind gut im Verdrängen, ich bin es auch. Wenn wir ehrlich sind, können wir Fleisch in der Art, wie es die meisten tun, nur deshalb essen, weil wir verdrängen, wie unlogisch das ist: Kalb essen, aber bitte keinen Hund. Für Mieze Kratzbaum, Kissen und Klo kaufen, aber Schweine einpferchen in 0,75 Quadratmeter. Wir entscheiden, welches Tier gegessen, geschützt, gejagt, gekuschelt, ausgerottet wird. Auf welcher Basis?

Weil wir’s können.

In der Bibel tauchen sehr viele Tiere auf. An vielen Stellen als Hauptdarstellerinnen und nicht als essbares Beiwerk in der Kategorie „Sonntagsbraten“. Eine Schlange eröffnet den ersten philosophischen Diskurs. Von der Ameise soll mensch das Arbeiten lernen. Gott beauftragt einen Raben, den Propheten Elia mit Essen zu versorgen. Die Taube bringt einen Ölzweig als Zeichen, dass die Sintflut vorüber ist. Ein Esel erweist sich als hellsichtiger als ein Seher.

Der Engel räuspert sich und sagt:

 „Da könnte ich eine Geschichte erzählen.“

Lassen wir ihn erzählen. Er war schließlich dabei.

„Es gab da einen Seher. Eine zwielichte Type irgendwie, andererseits aber auch mit Gott per Du. Ein Erfolgsmensch, der für das richtige Honorar zu vielem bereit war. Ihr kennt das. Diese Coaches, die eine Menge einschwören können. Tschakka, ihr schafft es. So einer war Bileam, und eines Tages erhielt er den Auftrag, das Volk Israel zu verfluchen. Nach einigem Hin und Her und mehrfachen Nachverhandlungen meinte Bileam schließlich, Gottes Okay gehört zu haben, stieg auf seinen Esel – präziser eine Eselin ­– und zog los. Heute wäre es vielleicht ein Tesla.

Kaum aufgebrochen, bockt die Eselin. Sie sieht etwas, das Bileam nicht sieht, nämlich mich, den Engel. Ich stehe mit einem Schwert in der Hand im Weg, um Bileam zur Umkehr zu bewegen. Die Eselin weicht aus, Bileam schlägt zu, weil ein Tier zu gehorchen hat. Der Pfad wird schmaler, rechts und links eine Mauer, ich stelle mich dazwischen. Die Eselin weicht wieder aus und klemmt dabei Bileams Fuß ein. Er heult auf, die Prügelei geht weiter, klarer Fall von Tierquälerei.

Aber ich weiche nicht aus, weil irgendwann müssen auch Bileams Menschenaugen checken, dass ich da bin. Als es schließlich keinen Platz mehr zum Ausweichen gibt, geht die Eselin in die Knie. Bileam schlägt sie mit einem Stock und endlich – endlich mischt sich Gott ein. Er öffnet den Mund der Eselin und fragt: ‚Was habe ich dir getan, dass du mich schlägst?‘“

 

„Was habe ich dir getan?“, fragt die Eselin.

„Was habe ich dir getan, dass du mich mästest, dass meine Knochen brechen?“, fragt das Huhn.

„Was habe ich dir getan, dass du mir ohne Betäubung Zähne abschleifst und Schwänze abschneidest?“, fragt das Ferkel.

„Was habe ich dir getan, dass du mich direkt nach der Geburt von meiner Mutter trennst?“, fragt das Kalb.

„Was haben wir getan, dass du die einen flauschst und die anderen frisst?“

 

In Deutschland werden jeden Tag zwei Millionen Tiere als Lebensmittel geschlachtet. Zwei Millionen. Tag für Tag.

Fühlt ein Huhn, ein Fisch, eine Ameise Schmerz?

Will ein Schwein spielen? Können Rinder trauern?

Zu allem ja.

Jedes Tier hat Würde. Es reicht, ehrlich in die Augen einer Kuh zu sehen, um zu verstehen: etwas verbindet uns. Wir fühlen. Wir leben. Einander leben zu lassen ist ein paradiesischer Zustand. Wir leben jenseits davon. Jesus sagte einmal: „Wie viel ist ein Mensch mehr wert als ein Schaf?“ Trotz aller Wertschätzung der Tiere bleibt die Perspektive der Bibel anthropozentrisch. Sie ist ja auch von Menschen geschrieben.

Biologisch betrachtet ist der Mensch ein Tier der Art Homo sapiens. Man könnte auch von menschlichen und nicht menschlichen Tieren sprechen. Albert Schweitzer sagt es so: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“ Schweine etwa gehören wie Hunde zu den Säugetieren und besitzen ähnlich hochentwickelte Fähigkeiten im Sozialverhalten und der Sinneswahrnehmung. Im Gegensatz dazu haben jedoch Spinnen und Würmer weniger Gemeinsamkeiten mit Schweinen als Menschen mit Schweinen. Anthropozentrische Sichtweisen stellen menschliche Bedürfnisse und Perspektiven in den Mittelpunkt. Das Tier ist dem Menschen ausgeliefert.

Jedes Leben ist schützenswert. Jedes Leben hat ein Recht auf Schmerzfreiheit, hat ein Recht auf Würde. Dass der Mensch ohne Not töten, sogar quälen kann, ist kein Grund, es auch zu tun. Das Recht der Stärkeren mag jenen logisch erscheinen, die es nicht besser wissen. Aber wir wissen es besser.

Ich werde auch als alleraufmerksamster Mensch mit meinem Leben anderes Leben verletzen. Nochmal Albert Schweitzer: „Auf tausend Arten steht meine Existenz mit anderen in Konflikt. Die Notwendigkeit, Leben zu vernichten und Leben zu schädigen, ist mir auferlegt.“

Ein Freibrief ist das trotzdem nicht. Wir können so wenig schaden wie möglich. Wir können Mitgefühl zur Königstugend machen. Zur Krone der Schöpfung.

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:

1: Karneval der Tiere: Introduktion

2: Karneval der Tiere: Das Aquarium

3: Karneval der Tiere: Persönlichkeiten mit langen Ohren

4: Karneval der Tiere: Finale

 

Von unserer Autorin Susanne Niemeyer ist gerade in der edition chrismon die Weihnachtserzählung „Zur halben Nacht“ erschienen.

https://www.chrismonshop.de/susanne-niemeyer-zur-halben-nacht-4655.html