Einen guten späten Abend, verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer.
Meist sind sie klug; geben Erfahrungen von Generationen wieder: Solche Redewendungen oder Lebensweisheiten verwende ich auch – wenn sie passen. Es gibt aber auch Sprüche, die mich verstören und zum Widerspruch reizen.
Einer davon ist. "Die Zeit heilt alle Wunden". Als ob sie das täte: Wunden heilen; die Zeit.
Ich erlebe es bei meiner Mutter: In ihrem hohen Alter ist sie selbst überrascht und erschrocken, dass sich jetzt bei ihr seelische Verletzungen plastisch melden, die sie in ihrer Kindheit und Jugend erlitten hat. Über Jahrzehnte waren die irgendwie weg. Jetzt will sie mir davon erzählen.
Ich höre es von einer Kollegin. Ihre Mutter hatte vor knapp 20 Jahren eine Fehlgeburt. Dieses Jahr an Ostern spricht sie mit ihrer inzwischen erwachsenen Tochter, meiner Kollegin, über den verstorbenen Bruder. Am Anfang fiel es der Mutter schwer, über diesen Verlust zu sprechen. Vielleicht haben deshalb viele in ihrer Umgebung zu dem Thema geschwiegen. Geholfen hat ihr weder Schweigen noch die Zeit. Sondern die wenigen Menschen, die das Gespräch gesucht und zugehört haben. Denen ist die Mutter bis heute dankbar.
Es gibt so viele Wunden, die erst Jahrzehnte später ihren Schmerz entfalten – auch in unserem Land: Verluste und Wunden, die damals im Krieg gerissen wurden. Seelische Verletzungen bei Bürgerinnen und Bürgern der ehemaligen DDR.
Und blicke ich in die weite Welt: wie wund sind Menschen in Ruanda, noch 30 Jahre nach dem Massaker an den Tutsi; in Bosnien Herzegowina 25 Jahre nach Srebrenica? Trotz allem hilfreichen Bemühen, trotz Aufarbeitung und Wahrheitskommissionen, trotz psychologischer Begleitung, Work-Shops und individueller Unterstützung: Das alles und auch die Zeit hat keine Wunden geheilt.
Ein besonderes Licht auf Leiden und auf Wunden wirft Ostern, das Christinnen und Christen seit einer Woche feiern. Immer wieder erzählen die biblischen Oster-Geschichten, dass Jesus seine Wunden vorzeigt: die blutigen Verletzungen an Händen und Füßen und in der Brust, die Nägel und eine Lanze am Kreuz verursacht haben. Erst daran erkennen ihn selbst die vertrautesten Freundinnen und Freunde; erst jetzt sehen und wissen sie, dass er wirklich lebendig vor ihnen steht. Es wäre doch eher österlich, denke ich, wenn Ostern genau das ausradiert und gelöscht hätte: die ganze erlittene Grausamkeit seines gewaltsamen Todes. Nach dem Motto: schaut – alles wieder heil; alle Wunden weg; freut euch mit mir auf ein neues sauberes und gesundes und heiles Leben ohne Ende.
Aber genau das tut Ostern offenbar nicht: wegwischen, verdrängen, ausklammern.
So widersprüchlich es klingt: Gerade an den Wunden Jesu erkennen die seinen, dass Ostern echt ist. Dass der tote Freund und Herr in ein neues Leben gegangen und jetzt bei ihnen ist.
Für ihn hat unvergängliches Leben begonnen. In dem auch die Wunden bleiben; die gehören zu seiner Identität dazu. Aber irgendwie sind sie ganz anders, manche meinen: sie "leuchten" und haben jedenfalls ihren Schmerz verloren.
Das versuche ich zu glauben oder sogar zu verstehen. Aber jedenfalls motiviert es mich, auch heute die Menschen mit ihren Wunden ernst zu nehmen: andere und mich selbst auch. Ich bemühe mich, dass sie von ihren Wunden erzählen können, ohne dass jemand darüber hinweggeht und einfach sagt: "Die Zeit heilt alle Wunden".
Manchmal bleibt dann nur, schweigend und ohne Kommentar zuzuhören – das tu ich bei meiner Mutter; das tut meine Kollegin bei der ihren.
Wunden bleiben, sie gehören zu uns – aber sie können und dürfen sich verändern; irgendwann sogar "leuchten". Auch das ist Ostern. Dass das doch wahr wird! Für jede und für jeden.
Einen gesegneten zweiten Ostersonntag wünsche ich Ihnen.
Saarländischer Rundfunk (SR)
Redaktion: Barbara Lessel-Waschbüsch
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