Warten können, bis der Moment für den eigenen Einsatz kommt. Diese Geduld entdeckt unser Autor Arnim Töpel bei dem Schlagzeuger eines Orchesters.
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Endlich wieder ein klassisches Konzert. Oft nehme ich es mir vor, viel zu selten setze ich es um. Den geglückten Anlauf verdanke ich dem Hinweis eines guten Freundes und seiner Ungeduld mit mir.
"Spitzen-Orchester, spektakulärer Dirigent und ein hochinteressantes Programm", schwärmte er am Telefon. "Wie sieht‘s aus, kommst du mit?"
"Ich… Ich überlege mal."
"Nee, nee, mein Lieber, kommt nicht in Frage, ich bestelle die Karten jetzt gleich. Entscheide dich: Ja oder nein?"
"Hm. Na gut."
Kaum hatte ich zugesagt, stellte sich Vorfreude ein. Es ist einfach grandios, ein solches Musik-Ereignis zu erleben. Es beeindruckt, ergreift, und bisweilen beseelt es obendrein.
Doch dieses Mal machte es etwas anderes mit mir.
Anfangs war noch nichts ungewöhnlich, ich schloss die Augen, tauchte ein in die Musik. Schon bald ließ ich meinen Blick schweifen. Ich mag das. Abgesehen von der Klangfülle eines großen Orchesters ist das für mich der entscheidende Unterschied zu noch so hochkarätigen Bildschirmübertragungen: Hier kann ich selbst bestimmen, wie ich die Musik bebildere, und davon mache ich liebend gerne Gebrauch.
Bei diesem Konzert wandert mein Blick vom Dirigenten über die Streicher zu den Bläsern und landet schließlich bei einem Schlagwerker. Der weckt auf Anhieb mein Interesse. Würdevoll thront er hinter den Kesselpauken und wartet auf seinen Einsatz. Umgeben von Kolleginnen und Kollegen, die sich kollektiv mit der Musik bewegen, wirkt er auf mich wie ein Fels. Kein Mitwippen, kein Nesteln am Hemdkragen, kein Dehnen der Finger, die ja gleich in Aktion treten werden. Ich lauere auf eine wie immer geartete Regung. Vergebens. Er wartet einfach, bis er zum Zuge kommt. Welch ein Sinnbild für Geduld!
Ich bin fasziniert. Kann man das lernen? Geduld haben? Warten auf den einen, auf meinen Moment?
Irgendwann erhebt er sich in aller Ruhe, nimmt Aufstellung, fischt sich die bereitliegenden Schlägel, streicht noch einmal über die Felle der Pauken, als wolle er seinen Instrumenten bedeuten: Ich bin’s, keine Sorge, und ich weiß, was ich tue.
So geschieht es denn auch: Präzise, mit wohldosierter Dynamik wirbeln die Trommelstöcke, und die so erzeugten Klänge fügen sich geschmeidig ein in das Ganze. Den letzten Schlag lässt er mit sanft dämpfender Hand harmonisch verklingen.
Während das Orchester weiterspielt, legt er die Schlägel wieder ab, nimmt seinen Platz hinter den Pauken ein und beginnt erneut das Warten. Als wäre nichts geschehen. Ungerührt. Fast ein bisschen geheimnisumwoben.
Schade eigentlich, kommt es mir in den Sinn. Kurz verspüre ich den Drang zu einem Zwischenruf: "Hey, stoppt mal! Genug der Streicher! Solo für den Schlagzeuger!"
Nein, dieser Versuchung widerstehe ich natürlich, es wäre bestimmt nicht im Sinne des Paukisten, der weiter in seiner Warteposition verharrt.
Nebenbei: kein Fehler! Nicht auszudenken, wenn er ungeduldig wäre, rastlos, hibbelig, einer, der nicht stillsitzen kann, während des Konzerts unablässig über die Bühne tigert und zu allem Überfluss die vor ihm sitzende Posaunistin immerzu nervt mit der Frage, die wir von Autoreisen mit Kindern kennen:
"Wie lang noch?"
"Geduld! Ein bisschen Geduld, mein Schatz! Wir haben es bald geschafft."
"Und jetzt? Wie lang jetzt noch? Du hast gesagt, nicht mehr lang."
"Nun ist es aber genug! Wenn du weiter so quengelst, gibt es ein Jahr Eisverbot!"
Ein solcher Quälgeist im Orchester würde das gesamte Ensemble verrückt machen, die Unruhe übertrüge sich, und der ganze Abend würde am Ende eine halbe Stunde früher fertig sein als geprobt.
Stattdessen übt sich der Trommelmeister bis zu seinem nächsten Auftritt ohne erkennbare Mühe in Geduld. Gut, er genießt dabei den Vorteil, nicht auf seinen Einsatz hoffen zu müssen. Die Partitur gibt ihm die Gewissheit, seine Zeit, sie wird kommen. Dennoch, diese Geduld ist erst einmal aufzubringen. Mir imponiert das. Zumal er, wenn es dann so weit ist, augenblicklich auf Höhe des Orchesters mitmusizieren muss. Alles andere als eine einfache Aufgabe. Würden seine Trommeln an falscher Stelle schweigen oder ungeplant erklingen, würden sie auch nur gelinde holpern, schnell geriete das ganze Werk aus den Fugen. Wenn er darauf zerknirscht reagieren und selbstkritisch einräumen würde: "Okay, das war jetzt keine Meisterleistung, aber ich werde an mir arbeiten. Versprochen! Gebt mir ein bisschen Zeit! Oder ich mache euch einen anderen Vorschlag: Wie wär’s, wir fangen einfach nochmal von vorne an?"
Wer würde darauf wohl nachsichtig reagieren?
In der Bibel heißt es so tröstlich: Gott ist "geduldig und von großer Güte" (Psalm 103,8). Ob der hier amtierende Allmächtige, der Dirigent, bei einem schwächelnden Schlagwerker Milde walten lassen würde? Kaum vorstellbar.
Selbst wenn der sich noch so lange bewährt hätte, ein Fehler könnte reichen, und ihm blühte die Ersatzbank. Da draußen warten schließlich genügend andere fabelhafte Musikanten auf ihre Chance. Ungeduldig, verständlicherweise, nachdem sie ihr Leben lang hart und ausdauernd dafür gearbeitet haben.
Schon erhebt er sich wieder, mein Hauptakteur, und mit Bravour absolviert er auch seinen nächsten Rhythmusdienst, um gleich darauf erneut an seinem Stamm-Platz zu erstarren.
Wie bedauerlich, dass es das so selten gibt bei klassischen Konzerten: Szenenapplaus. Den würde ich meinem Blickfang gerne spenden, auch für diese beeindruckende Geduldschau.
Ob er die auch andernorts hat, die Geduld? Gilt er privat als Liebling aller Handwerker, weil er jeden Auftrag abschließt mit der Bemerkung: "Lassen Sie sich, bitte, unbedingt Zeit mit Ihrem Besuch, in ein, zwei Jahren, das wäre für mich früh genug."
Sorgt er an Kreuzungen für Staus, weil er, obwohl selbst zur Vorfahrt berechtigt, jedem anderen bedeutet: "Ich habe keine Eile, fahr‘ du zuerst!"
Nein. Wer immer und überall auf seine Geduld pocht, der verbrämt eher seine Antriebsschwäche. Und so schätze ich ihn nicht ein.
Es ist schon erstaunlich mit dieser Geduld, die uns im Verlauf des Lebens immer wieder und auf unterschiedlichste Weisen abverlangt wird. Manchmal absehbar, manchmal aus heiterem Himmel. Und auch wenn in der konkreten Situation ein jeder seine eigene Geduld an den Tag legen muss, bestimmte Erfahrungen kennen wir wohl alle. Erinnern wir uns: Als Kind will man unbedingt älter werden. Man ist dann doch überrascht, wie gut das gelingt.
Damit habe ich nicht gerechnet: Nach langer Zeit besuche ich wieder ein klassisches Konzert, und wer zieht mich in seinen Bann? Der Mann an den Pauken.
Ich genieße es, ihm nicht nur beim Musizieren zuschauen zu dürfen, sondern auch beim Warten auf seinen Einsatz. Ich beobachte ihn beim Geduldigsein. Nun, da ich diese Tugend an ihm entdeckt habe, wird mir bewusst, ich nehme ihn mittlerweile nicht nur als Musiker wahr, sondern als Menschen. Das Orchester liefert den Soundtrack zu meinen Beobachtungen, zu meiner Charakterstudie.
Da! Ein Schmunzeln! Quittiert er damit das besonders gelungene Schmettern der Hörner?
Oder ist er mit seinen Gedanken woanders? Denkt er vielleicht zurück an seine ersten Auftritte, an das schier lähmende Lampenfieber und wie es ihm gelang, damit zurande zu kommen? Yoga, Meditationstechniken könnten ihm geholfen haben. Womöglich aber auch ein Gebet, die Bitte um göttlichen Beistand. Falls dem so ist, dann lässt der himmlische Vater seinen Schützling bestimmt nicht allein, wenn der sich nun abermals an ihn wendet.
Ich kann mir vorstellen, was das Geheimnis seiner Geduld ist: Gottvertrauen. Irgendwie strahlt er das aus. Ich ahne, dass er deshalb vor allem für die Jungen im Orchester eine Vertrauensperson ist, wenn sie ein offenes Ohr brauchen, wenn ihnen noch nach der Probe die Hände zittern, weil sie der Dirigent mit einem mahnenden Augenrollen bedacht hat. Dann ist er einfach da, der Mann für alle Felle. Verlässlich, unerschütterlich, ein Fels in jeder Brandung.
Und doch, sein aufblitzendes In-sich-hinein-Lächeln hat mir gezeigt, da sitzt kein routinierter Eisblock, da sitzt einer mit Herz.
Moment mal! Hab‘ ich das eben richtig gesehen? Hat er gerade auf die Uhr geschaut? Das darf ja wohl nicht wahr sein, Freundchen! Hast du noch was vor heute Abend? Bist du in Gedanken schon bei der After-Show-Party? Gibt es etwa auch Klassik-Groupies?
Oder kannst du es nicht erwarten, bis du gegen Mitternacht in einer verrauchten Spelunke deiner eigentlichen Leidenschaft frönen darfst: Drummer in einer Rockband?
Ich gebe zu, erst bin ich schon entrüstet, ein vermeintlich erzgeduldiger Schlagzeuger, der mitten im Musikstück auf die Uhr schaut. Dass er mich so hinters Licht geführt hat, mein Bruder Langmut.
Aber schon bald weicht die Empörung einer Beruhigung. Denn wenn jemand derartig geduldig in Erscheinung tritt, fragt man sich unwillkürlich, wie es um die eigene Duldsamkeit steht. Und da fallen mir schon ein paar Defizite ein.
Jetzt, da ich sein unverhofftes Schwächeln sehen durfte, nehme ich mir vor, mit mir gelegentlich ein bisschen geduldiger zu sein.
Dann ist er noch einmal gefordert, der Mann mit den Pauken, und nun muss ich schmunzeln: Ja, man weiß von einem Menschen oft mehr, bis man ihn kennenlernt.
"Und?" Im Anschluss an das Konzert schaut mich mein Freund prüfend an: "Ich hatte zwischendurch den Eindruck, du langweilst dich."
"Überhaupt nicht", widerspreche ich, und das mit voller Überzeugung. "Es war ein sehr besonderer, ein wundervoller Abend. Ich habe das Gefühl, ich nehme einiges für mich mit."
"Das freut mich!" Er strahlt mich an. "Weißt du, was mir am besten gefallen hat?"
"Ich kann‘s mir denken", antworte ich und grinse wissend.
Er nickt. "Ganz genau: die Fagottistin."
"Die Fagottistin? Äh… Die habe ich jetzt gar nicht so wahrgenommen."
"Dann sollten wir das unbedingt noch einmal machen. Es gibt zum Glück einen weiteren Termin für dieses Konzertprogramm."
Ich bin auf jeden Fall dabei, übe mich bis dahin in Geduld und sehe dem erwartungsvoll entgegen. Denn es wird gewiss ganz anders sein.
Es gilt das gesprochene Wort.
Musik dieser Sendung:
1. SWR Sinfonierrchester. Le Sacre du Printemps
2. Buddy Rich, The Monster
3. Ina Brosow & Rudolf Scherfling: Warte nur ein Weilchen
4. Led Zeppelin: Rock and Roll
5. Miles Davis: Time after Time