Der Frühling lässt auch die Seele auftauen. Davon war der Mystiker und Barockdichter Angelus Silesius überzeugt.
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"Blüh auf, gefrorner Christ;
Der Mai steht vor der Tür,
Du bleibest ewig tot,
Blühst du nicht jetzt und hier."
Diese Verse stammen vom Mystiker und schlesischen Barockdichter Angelus Silesius.
"Blüh auf, gefror'ner Christ." Im Geiste sehe ich einen erstarrten Menschen vor mir. Der nicht mehr fühlen kann. Keine Liebe, kein Mitgefühl, keine Freude. Es muss viel Böses geschehen, damit ein Mensch derart erkaltet: Gefühle, die nicht erwidert werden, fehlendes Mitleid, Gewalterfahrungen.
Mich erschreckt – wie viele andere auch – das politische Chaos, mit dem die USA die ganze Welt in Mitleidenschaft zieht. So ein Kälteschock macht erst einmal handlungsunfähig. Die Schreckensstarre ist aber auch eine Schutzreaktion des Körpers. Wenn die Seele versucht, sich vor einer überwältigenden Bedrohung zu schützen, dann frieren die Gefühle ein. Der Körper erstarrt – wie bei Tieren, die sich totstellen, wenn sie nicht flüchten können.
Wichtig ist es, sich aus dieser Erstarrung wieder zu lösen. Doch der Weg zurück ins Leben braucht Zeit. Die Worte des Dichters ermuntern dazu. Angelus Silesius lockt mit Frühlingsbildern: Blüh auf, du eingefrorener Christenmensch. Der Mai steht vor der Tür.
Nicht von ungefähr hat der Dichter ein Bild aus der Natur gewählt. Mir gefällt dieses erdverbundene Bild, das er für den Prozess eines Menschen zeichnet. Aufblühen im Mai. Langsam wächst etwas Neues heran. Das neue Leben kommt aus der Erde, nicht etwa aus dem Universum mit seinen Raketen und Satelliten. Geschwindigkeit spielt keine Rolle. Wachsen ist ein langsamer Vorgang. Wer aufblüht, benötigt Geduld. Alles Lebendige braucht Zeit, sich zu entwickeln. Ich halte diese Langsamkeit für einen Segen.
Dieses langsame Wachsen geschieht jetzt, in der Gegenwart. Der Dichter schreibt vom Blühen jetzt und hier. Was mir nach Schrecken und Entsetzen das Gefühl für mein eigenes Leben wiederbringt, ist in der Tat die Erfahrung der Gegenwart. Jetzt und hier den Garten bepflanzen. Eine Blume betrachten. Meine Sinne verbinden mit dem, was mich umgibt.
Es ist gerade schön draußen. Der Mai steht vor der Tür. Ich versuche, mich auf das zu konzentrieren, was ich selbst beeinflussen kann. Denn weder den Ukrainekrieg noch die Klimakrise kann ich als Individuum lösen. Ich möchte mich nicht um meine Gegenwart bringen, indem ich mich ständig mit meinen Zukunftssorgen beschäftige. Und vielleicht kann ich auch vor meiner Haustür etwas Gutes bewirken.
Der Dichter Angelus Silesius wurde zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges geboren. Sein poetisches Werk "Der Cherubinische Wandersmann" handelt von der Suche nach Gott. Auch die Verse über den erstarrten Christ stammen daraus. Angelus Silesius ging es um Gott. Gotteserkenntnis war für ihn eng mit dem menschlichen Dasein verbunden. Gotteserfahrung passiert für ihn im Menschen, in der Seele und auch im Körper. Er dichtet:
"Halt deinen Leib in Ehrn, er ist ein edler Schrein,
in dem das Bildnis Gotts soll aufbehalten sein."
Gottes Bild im eigenen Leib. So eine große Bedeutung hat das leibliche Leben für den Dichter. "Halt deinen Leib in Ehrn" und "Blüh auf, gefrorner Christ". Den eigenen Körper achten, Sinn haben für das Aufblühen der Natur - darin erlebt der Mystiker die Verbundenheit mit Gott, jetzt und hier.
Ich lese in seinen Worten einen Aufruf zur seelischen Selbstfürsorge. Wie wichtig es ist, sich um sein Wohlbefinden zu kümmern. Im eigenen Körper das Bildnis Gottes aufbewahrt zu wissen, ein Bild des Lebens: Das ist eine wahrhaft mystische, geheimnisvolle Vorstellung von Gottes Gegenwart in einem Menschen - die aufblühen lässt. Sie nimmt den Bedrohungen der Gegenwart ihren Schrecken. Sie löst Erstarrungen.
Ich merke, wie sich mein Körper entspannt, wenn ich eine kleine Übung versuche: nämlich zu lächeln. Wenn ich lächele, verändert sich mein Körper. Meine Gesichtsmuskeln entspannen sich. Ich spüre eine Leichtigkeit, die langsam durch den Körper zieht. Ich denke an den Frühling, mit einem Lächeln, und freue mich. Ja, der Mai steht vor der Tür. Jetzt und hier.
Es gilt das gesprochene Wort.
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