Sendung zum Nachlesen
Ich sehe ihn nicht zum ersten Mal. Klein ist er, trägt einen dunklen Bart und geht irgendwie schief. Er stützt sich schwer auf seinen Stock, humpelt an den wartenden Autos entlang. Eine vielbefahrene Kreuzung, Ausfallstraße zur Autobahn.
Die letzten Male habe ich auf der äußeren Fahrspur gestanden, in sicherer Entfernung gewissermaßen. Diesmal stehe ich innen, direkt neben dem schmalen Bordstein, auf dem der bettelnde Mann unterwegs ist. Gleich wird er auch auf mein Auto zukommen, mir seinen Becher hinhalten und hoffen, dass ich das Fenster herunterlasse.
Braucht er den Stock wirklich, auf den er sich stützt, oder ist dieses Humpeln nur vorgetäuscht, kommt es mir unvermutet in den Sinn. Es passiert mir ganz unwillkürlich: Die Not anderer macht mich erst einmal skeptisch, vorsichtig. Spielt er mir was vor, oder ist das echt?
Die zwei wartenden Autos vor mir hat er jetzt passiert. Keine Autofensterscheibe hat sich nach unten bewegt. Ich fühle in mir den Herdentrieb. Wenn alle das so machen, dann brauche ich ja auch nichts zu geben. Aber es fühlt sich nicht gut an. Ich krame in meiner Geldbörse nach ein paar kleinen Münzen, lasse das Autofenster herunter und lege ihm die Geldstücke in seinen Becher. Ein Dankeschön, ein schneller Gruß, schon ist meine Autoscheibe wieder oben.
Ich bin nach dieser sehr kurzen Begegnung wieder allein mit mir. Ich drin, er draußen. Wir, die Autofahrer, sicher in unseren Fahrzeugen. Er auf der Straße, ausgesetzt, umgeben von Lärm und dreckiger Luft. Zwei völlig unterschiedliche Daseinsformen, meine gesicherte und seine ungesicherte.
Betteln ist harte Arbeit. Diesen Satz habe ich vor Jahrzehnten auf einer Reise nach Mexiko gelernt. In vielen Ländern ist Betteln für arme Menschen die einzige Möglichkeit, Geld für den Lebensunterhalt zusammenzubekommen. Auch in unserer Wohlstandswelt, trotz aller Sozialsysteme – jede Innenstadt, jede Bahnhofsgegend zeigt, wie vielen Menschen es hier bei uns nicht anders geht.
Nun habe ich dem Bettler also etwas gegeben. Angenehm war mir die Begegnung nicht. Ich finde es schon verstörend, sein Elend zu sehen. Um den Hals trägt er ein Schild: Habe drei Kinder. Was er hier wohl am Tag zusammenbekommt? Wird das genügen? Woher bekommt er noch Unterstützung? Ich fühle mich unbehaglich. Auch wenn mir ein paar gespendete Münzen nicht wehtun, so komme ich doch nicht gerne in Kontakt, mit ihm, dem armen Menschen und seinem Elend.
Seine Armut stellt mein gut situiertes Leben in Frage. Ich kenne daher von mir selbst den Impuls, einer solchen Situation auszuweichen, wegzusehen. Christlich ist das nicht, ich weiß.
Die Theologin Dorothee Sölle spricht von einer Wahrnehmungsunfähigkeit für das Leiden: "Wie Farbenblinde stehen die Menschen dem Leiden gegenüber – wahrnehmungsunfähig und ohne Sensibilität." (1) Doch wer dem Leiden ausweiche, stumpfe selber ab in seinem gesamten Gefühlsleben. Ich fühle mich angesprochen. Wenn ich das Elend armer Leute auf Abstand halte, dann verkümmert etwas in mir selbst: die Fähigkeit zur Empathie, zum Mitgefühl.
Zwei Geistliche sind an einem überfallenen Menschen vorbeigegangen, ohne ihm zu helfen, – bis ein Samariter des Weges kam, der Mitleid hatte, so erzählt es Jesus in seinem Gleichnis vom Barmherzigen Samariter. (Lk. 10,25-37) Jesus hatte selbst materiell nichts abzugeben. Aber von seiner heilenden Kraft hat er abgegeben – und ist dabei verarmten, kranken Menschen ganz nahe gekommen. Ohne Berührungsängste hat er sie angefasst, mit seiner eigenen Spucke bestrichen und geheilt (Mk. 8,23). Jesus hat etwas gezeigt, was so vielen armen und kranken Menschen heute dringend fehlt: Respekt. Zuwendung, die Erfahrung, dass andere nicht wegsehen. Das Handeln Jesu hat Vorbildcharakter. Von seiner Menschenfreundlichkeit kann auch ich noch viel lernen.
Zwei Wochen später: Ich fahre wieder an der Kreuzung vorbei. Der kleine Mann ist auch wieder da. Die Ampel springt auf Rot, die Autos halten, er klemmt sich seine Gehhilfe unter die Achsel und macht sich an die Arbeit. Humpelt am ersten, am zweiten Auto vorbei. Es rührt sich nichts. Ich habe mein Geldstück schon in der Hand, öffne das Autofenster, lege es ihm in den Becher. Er bedankt sich, er wünscht mir alles Gute. Wir lächeln uns an. Dann humpelt er weiter.
(1) Dorothee Sölle, Leiden, Stuttgart/Berlin 1978, S. 53
Es gilt das gesprochene Wort.