Ich freue mich immer, wenn mir bei einem Waldspaziergang ein Reh über den Weg läuft - oder ein versehentlich aufgescheuchter Hase Haken schlagend im Unterholz verschwindet. Solche Begegnungen sind selten. Ich ahne etwas von dem verschwiegenen Leben dieser scheuen Tiere. Sie bevölkern den Wald, ohne dass ich viel davon mitbekomme.
Umso erstaunter bin ich, als eines Abends im Mai ein Rehbock vor meinem Küchenfenster steht.
Jung und schmal, dunkelgraues Fell und ein noch recht kleines Gehörn – der Rehbock steht vielleicht zwei Meter vom Fenster entfernt. Unter einem Baum im Unterholz kaut er junge Ahornblätter, büschelweise. Im Dämmerlicht kann mich der Rehbock durchs Fenster nicht sehen. Er steht eine ganz Weile dort, knabbert junge Triebe ab und fühlt sich offenbar völlig ungestört.
Ich habe mir gerade eine Spargelsuppe gekocht, bewege mich nun im Zeitlupentempo zum Herd, fülle mir einen Teller und nehme ganz langsam am Küchentisch Platz. Der Rehbock steht draußen und rupft Blätter, ich löffele drinnen vorsichtig meine Suppe. Und so haben wir zusammen Abendbrot gegessen, der Rehbock und ich.
Ich bin fasziniert. Rehe sind scheu. Ich fühle mich dem Tier verbunden und weiß doch: dieses Gefühl ist einseitig. Aus dem Paradies, in dem Mensch und Tier noch friedlich zusammenleben, sind wir lange vertrieben. Und dennoch: Ein wildes Tier in Ruhe betrachten zu können, fühlt sich an wie eine Erinnerung an paradiesische Zeiten.
Manchmal, wenn ein Vogel ruft
Oder ein Wind geht in den Zweigen
Oder ein Hund bellt im fernsten Gehöft,
Dann muß ich lange lauschen und schweigen.
Meine Seele flieht zurück,
bis wo vor tausend vergessenen Jahren
Der Vogel und der wehende Wind
mir ähnlich und meine Brüder waren.
Meine Seele wird Baum
Und ein Tier und ein Wolkenweben.
Verwandelt und fremd kehrt sie zurück
Und fragt mich. Wie soll ich Antwort geben?
Was Hermann Hesse beschreibt (1), ist noch viel länger her als die tausend vergessenen Jahre, und ob Mensch und Tier damals tatsächlich Geschwister waren? Die Sehnsucht nach dieser Verbundenheit aber lässt sich spüren…
Nach den biblischen Erzählungen hat der Schöpfergott die Menschen in den Garten Eden gesetzt. Dieser paradiesische Ursprungsgarten war bevölkert von den Tieren, die Gott geschaffen hat. Den Menschen gab Gott den Auftrag:
"Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alles Getier, was auf Erden kriecht." (2)
Und es heißt in den Schöpfungsberichten auch:
"Gott nahm den Menschen, setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn bebaute und bewahrte." (3)
Sind Mensch und Tier im Ursprung Geschwister, so wie es sich Hermann Hesse in seinem Gedicht vorgestellt hat? Vielleicht nicht unbedingt. Was wir auf jeden Fall sind, der Rehbock am Küchenfenster und ich: Geschöpfe Gottes, als Mensch und Tier in dieser Geschöpflichkeit miteinander verbunden. Und nach den biblischen Erzählungen tragen Menschen Verantwortung für die Tiere: wenn man den Auftrag, über die Tiere zu herrschen, auch als Pflicht zur Fürsorge versteht.
Es gibt wilde Tiere, und es gibt Haustiere, zum Beispiel meinen Kater Karl. Wenn ich auf dem Sofa liege, springt mir der Kater auf den Bauch, lässt sich dort nieder und schnurrt, - und ich streichle sein kuscheliges Fell.
Dein wundervolles weiches Fell,
schwarz und hell,
so seidig, üppig, voller Pracht,
wie Wolkenhimmel in der Nacht,
belohnt die Hand, die dich liebkost,
mit freundlicherem Glück und Trost.
So dichtet im 19. Jahrhundert der englische Autor Algernon Charles Swinburne (4).
Haustiere teilen das häusliche Leben der Menschen. Katzen wurden vor über 9000 Jahren domestiziert, eine für Mensch und Tier annehmliche Zweckbeziehung: Die Katzen fingen Mäuse in Haus und Hof, die Menschen freuten sich, dass die Katzen die lästigen Nager dezimierten.
Später dann bezog die niedliche Katze ihren Platz als Sofatiger im Wohnzimmer, wurde Heimtier, Familienersatz oder auch mehr:
"Mein Tier ist auch Familie". So las ich kürzlich auf einem Autoaufkleber. Ich bin etwas skeptisch, ob es dem Tier gerecht wird, es wie ein Familienmitglied zu behandeln. Mein Kater wird sich wohl nicht als ein Familienmitglied empfinden, trotz gelegentlicher Anschmiegsamkeit. Tiere können anhänglich sein und einen Menschen begleiten wie ein guter Gefährte. Doch mein Kater hat auch eine wilde Seite. So niedlich meine Nachbarn ihn finden – als er vor dem Haus genüsslich eine erbeutete Meise zerlegte, gab es entrüstete Kommentare.
Als mein Kater Flöhe hatte und Bandwürmer, musste ich ihm Medikamente verabreichen. Auf den Beipackzetteln war der irritierende Hinweis zu lesen:
"Nicht anwendbar bei Tieren, die der Gewinnung von Lebensmitteln dienen."
Ein unangenehmer Satz. Mein Kater ist ja gerade kein Lebensmittel, sondern mein Haustier.
Aber dieser Satz auf dem Beipackzettel zeigt, in welch unterschiedliche Kategorien die Tiere aufgeteilt sind: Die einen werden mit teuren Arztbesuchen gesund gehalten – andere dienen als Lebensmittel. Welches Tier wozu verwendet wird, bestimmen die Menschen.
Und es gibt kulturelle Unterschiede: Das Meerschweinchen erfreut hier die Kinder als niedliches Haustier, in den Restaurants von Peru dagegen wird es als Delikatesse angeboten. Ich habe es dort probiert – ein eigenartiges Gefühl, so ein Meerschweinchen zu verspeisen. Fühlt sich fast wie ein Tabubruch an.
Dabei besteht der eigentliche Tabubruch darin, Tiere so zu behandeln, als wären sie Dinge, als dienten sie allein der menschlichen Bereicherung. Das Leiden der Tiere in der industriellen und keineswegs artgerechten Massentierhaltung, auf Tiertransporten quer durch Europa, die grausame Schlachtung wie am Fließband:
Tiere, die lediglich der Vermarktung dienen, die als seelenlose Sache behandelt werden – da schreit das Elend der gequälten Kreatur zum Himmel.
Mensch und Tier gehören im christlichen Verständnis als Gottes Geschöpfe zusammen. Auch wenn von der unveräußerlichen Würde und dem uneingeschränkten Lebensrecht nur beim Menschen zu sprechen ist, darf ein Tier nicht ausschließlich unter seinem wirtschaftlichen Verwertungszweck als Verfügungsmasse für menschlichen Konsum und Handel gesehen werden.
So heißt es in einem Impulspapier der Evangelischen Kirche in Deutschland aus dem Jahr 2019. Das Papier der EKD trägt den Titel "Nutztier und Mitgeschöpf! Tierwohl, Ernährungsethik und Nachhaltigkeit aus evangelischer Sicht." (5)
Darin unternimmt die EKD eine Bestimmung des Verhältnisses zwischen Mensch und Tier und entwirft Kernsätze einer nachhaltigen Nutztierethik.
Dazu zählen die fünf wissenschaftlich anerkannten Freiheiten der Tiere:
Freiheit von Hunger und Durst
Freiheit von haltungsbedingten Beschwerden
Freiheit von Schmerz, Verletzungen und Krankheiten
Freiheit von Angst und Stress
Freiheit zum Ausleben normaler Verhaltensmuster (6)
In diesen Wochen im Mai, wenn überall die gelben Rapsfelder leuchten, kommt an der Ostsee der Hornhecht zum Laichen an die Küste.
Der Hornhecht ist ein bemerkenswerter Fisch mit seinem silberglänzenden, langen, spindelartigen Körper - der noch verlängert wird durch sein schnabelartiges Maul: Damit greift er seine Beute.
Ich fahre jetzt im Mai gerne an die Ostsee, um diese schnellen Silberpfeile mit der Angel zu fangen. Der Hornhecht, ein wohlschmeckender Fisch mit grünen Gräten, wird nicht industriell befischt. Es gibt ihn daher noch zur Genüge in der Ostsee – ganz im Gegenteil zum Dorsch. Dieser ist durch exzessive Schleppnetzfischerei so weit dezimiert worden, dass es jetzt strenge Fangbeschränkungen gibt - auch für Angler, sie dürfen nur einen Dorsch pro Tag fangen. Vor Jahren bin ich gerne mit Angelkuttern auf die Ostsee ausgelaufen, um dem Dorsch nachzustellen. Da gab es noch Aussicht auf gute Fänge. Mittlerweile ist mit den Fischbeständen auch der Angeltourismus zusammengebrochen.
So versuche ich mein Glück mit dem Hornhecht, oder ich fahre frühmorgens zu den Teichen meines Angelvereins. Angeln ist für mich Naturerlebnis und Abenteuer. Jedes Mal spannend. Ob ich tatsächlich einen Fisch fangen werde, weiß ich vorher nicht. Will ich Erfolg haben, muss ich seinen Lebensraum und seine Lebensweise studieren: wissen, wann der Fisch unterwegs ist, welche Köder er gerne frisst – es ist eine Schule der Natur.
Ein leidenschaftlicher Angler war auch der Schriftsteller Siegfried Lenz. Ein Leben lang faszinierten ihn Fische in ihrer geheimnisvollen Unterwasserwelt:
...Schönes weiches
schlankes Silberspiel des Teiches.
Du hast meinen Sinn verführt.
Sonderbar, wie durch das Wasser
gelber, schwarzer und auch blasser
Marmor meinen Blick berührt. (7)
Die Fische waren schon vor den Menschen auf der Welt, daran erinnert Siegfried Lenz in seinem Hörspiel "Am Widerhaken hängt das Glück" (8):
"Die Fische hatten gleichsam den Vortritt, sie wurden zuerst aufgerufen, und sie schwammen in all ihrer erfindungsreichen Herrlichkeit in Erscheinung: als schlichtes Scheusal, als goldschuppige Spindel, als abenteuerliche Schönheit.
Der radarbegabte Wels und der kuhhörnige Kofferfisch, der keilschnäuzige Stör und die biederen Brassen, der Nilhecht und der Nasenhai,..."
...und noch viele Fische mehr, in schier unendlich verschiedenen Formen, Farben und Gestalten.
Doch die Fische sind bedroht, die Vergiftung der Meere durch Schwermetalle und die Belastung durch Mikroplastik nimmt immer mehr zu. In Norwegen wurde der Fang und Genuss von großen Heilbutten bereits verboten – zu viel Quecksilber reichert sich in diesem Bewohner des Meeresgrundes an. Und selbst im arktischen Meereis wurde Mikroplastik in hoher Konzentration gefunden. (9)
Das Glück, das für Siegfried Lenz am Widerhaken hängt – es ist ein für alle bedrohtes Glück, nicht nur für die Fische.
Es tut gut, mit Tieren zu leben, sich mit ihnen als Teil der Schöpfung zu erfahren:
Die wild lebenden Tiere, die mir nur gelegentlich über den Weg laufen, sie zeigen mir, dass ich in Wald und Flur nicht allein bin.
Tiere, die mit den Menschen zusammenleben, können Gefährten sein. Sie können auch Trost spenden und immer wieder überraschen durch ihre Art, einfach Tier zu sein.
Und die Tiere, von denen sich Menschen ernähren - mit der gebotenen Fürsorge und Mäßigung und dem nötigen Respekt – sie stärken, nähren und erfreuen den Gaumen. Mir schmeckt nichts besser als ein selbst gefangener Fisch.
Doch Tiere sind nicht allein für die Menschen da, sondern um ihrer selbst willen. Sie haben als Mitgeschöpfe "…ihre eigene Schönheit, Würde und Lebenssinn". (10)
Die Zweckfreiheit des Lebens, das unhinterfragte Einfach-Da-Sein, das können Menschen an den Tieren erleben, auch die bunte und gleichzeitig so bedrohte Vielfalt allen Lebens.
Und überhaupt: Tiere brauchen uns Menschen weniger, als wir sie brauchen. Sie waren ja schließlich schon vor uns da. Alles, was sie sind, sind sie nicht für uns - sondern einfach, weil sie sind, was sie sind: das Reh, die Katze, der Fisch und alle anderen Tiere – so, wie Gott sie geschaffen hat.
Es gilt das gesprochene Wort.
Literaturangaben:
(1) Hermann Hesse, Stufen. Ausgewählte Gedichte, Berlin 2017/4, S. 44
(2) Genesis 1,28 in: Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers, Stuttgart 1985
(3) Genesis 2,15, a.a.O
(4) https://www.aphorismen.de/suche?autor_quelle=swinburne
(5) EKD-Texte 133, Nutztier und Mitgeschöpf! Tierwohl, Ernährungsethik und Nachhaltigkeit aus evangelischer Sicht, Hannover 2019, S 125
(6) EKD-Texte 133, a.a.O, S. 126
(7) Siegfried Lenz, Florian, der Karpfen, Hamburg 2021, S.33
(8) Siegfried Lenz, a.a.O., S. 7
(10) EKD-Texte 133, a.a.O., S. 125
Musikangaben:
- London Studio Orchestra, Perfectly Poised A, CD-Titel: Contemporary Period Drama
- Theodore Komaniecki, Emmanuel Birnbaum, Rain on the City, CD-Titel: Tribute to Satie
- Leon Gaer, Hearts Unveiled, CD-Titel: Journey of the Heart
- Corey Summers, Crocodile River, CD-Titel: American Rural
- Helen Lyon, Morning Awaken, CD-Titel: Piano Documents
- Ken Miller, Sunlight Waltz, CD-Titel: Good Acoustics