Die Sendung zum Nachlesen:
"Nicht das Vergessen! Das Geheimnis der Erlösung ist Erinnerung" (3). Dieses Wort stammt vom jüdischen Gelehrten Baal Schem Tov, aus Osteuropa im 18. Jahrhundert. Es meint ursprünglich ein religiöses Erinnern an das Heilige Land und den zerstörten Tempel in Jerusalem.
Heute ist dieser Satz eingraviert in eine Wand in Yad Vashem, der Holocaust-Gedenkstätte in Jerusalem. Erinnern ist schmerzhaft, und es ist notwendig, um einer guten Zukunft willen. Die Erinnerung braucht Wiederholung und Zeiten, wie den 27. Januar als wiederkehrenden Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Und es gibt Gedenkorte, um sich zu erinnern, in ganz Europa.
Mit Navid Kermani denke ich an Belarus. Das Land habe ich noch unter dem Namen Weißrussland kennengelernt. Der Schriftsteller schildert seine Eindrücke einer Reise durch dieses Land; er schreibt: "Andere Länder haben Mahnmale, die an die Schrecken des Krieges und des Holocausts erinnern. Wer durch Weißrußland fährt, bekommt den Eindruck, dass das Land ein einziges Mahnmal ist, so zahlreich sind die Gedenksteine, Massengräber und Hinweisschilder, die zu ehemaligen Vernichtungslagern führen." (1)
Eines dieser Mahnmale habe ich vor über 30 Jahren auch besucht: die Gedenkstätte Chatyn, nahe der Hauptstadt Minsk. Soldaten der deutschen Wehrmacht haben das Dorf Chatyn niedergebrannt, 26 Häuser: die Bewohner in eine Scheune getrieben und die Scheune angezündet. Wer zu fliehen versuchte, wurde erschossen. Chatyn ist eins von 600 Dörfern, die in Weißrussland mitsamt ihrer Bevölkerung von der deutschen Wehrmacht verbrannt wurden. Heute erinnern in Chatyn insgesamt 26 Glockentürme, auf den Fundamenten der abgebrannten Häuser erbaut, an dieses unsagbare Verbrechen. Jeder Glockenturm ragt anstelle eines Schornsteins in die Höhe, die Namen der ermordeten Erwachsenen und Kinder sind darauf vermerkt.
Kermani beschreibt diese Gedenkstätte: "In dem Haus aus Luft, das ich als erstes betrete, lebten drei Erwachsene und sechs Kinder, fünf, sieben, acht, neun, zehn und zwölf Jahre alt. Fünfzig Meter weiter ein Haus, das einer Frau allein gehörte. (…) Alle dreißig Sekunden läuten die kleinen Glocken, allerdings zeitlich minimal versetzt, so dass ein langgezogenes, helles, kindliches Wimmern entsteht, das die Seele durchdringt. (...) Noch nie bin ich durch eine Gedenkstätte gelaufen – kreuz und quer durch das Dorf aus Luft -, in der die Gewalt, die Trauer, die Leere so physisch erfahrbar werden." (2)
Als ich in den 80er Jahren mit der Aktion Sühnezeichen diesen Ort besucht habe, war ich ebenfalls tief betroffen. Wie lässt sich das begreifen, dieses monströse Ausmaß an gezieltem Vernichtungswillen, dieses millionenfache Leid?
Die Opfer erinnern sich länger, die Täter vergessen schneller. Das habe ich schon als junge Pastorin erlebt. Noch unter dem Eindruck dieser Reise habe ich die Gedenkstätte von Chatyn in einer Predigt beschrieben. Ich musste erfahren, dass die Erinnerung an diese schuldbehaftete Geschichte Deutschlands nicht gut angekommen ist. Nach meinem Gottesdienst gab es Protest, ein älterer Herr ist sogar aus der Kirche ausgetreten.
Doch die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs sind Teil der Geschichte, mit der wir Nachgeborenen leben müssen. Geschichtsvergessenheit ist fatal, das Geschehene wirkt bis heute. Erinnerung kann heilsam sein, hoffentlich, für uns Deutsche wie für unsere europäischen Nachbarländer. Ein Erinnern an diese Verbrechen ist nicht ohne Schmerz und Entsetzen möglich. Wer sich dem aussetzt, trägt daran. Jedes Mal, wenn man auf solche Gedenkstätten stößt. Orte, die Mahnmal sind für die millionenfachen Opfer einer menschenverachtenden Ideologie, für unfassbares Leid, ausgeübt von Tätern, die meine Vorfahren waren, deren Nachkomme ich bin. Ich habe diese Geschichte geerbt. Ihr Erinnern ist gute und hoffnungsvolle Grundlage für ein respektvolles Zusammenleben, für Verständigung und für Frieden. Für eine gute Zukunft, miteinander.
1: Navid Kermani, Entlang den Gräben. Eine Reise durch das östliche Europa bis nach Isfahan, C. H. Beck, München 2018, S.76f.
2: Ebd, S.74.
3: (https://www.evangelisch.de/inhalte/159818/01-09-2019/das-geheimnis-der-erloesung-ist-erinnerung)
Es gilt das gesprochene Wort.