Morgenandacht
Generation am Abgrund
03.02.2021 06:35

Die Sendung zum Nachlesen: 

Verständigung in Europa braucht die Erinnerung. Wie nötig es ist, diese Verständigung aufzubauen und zu fördern, habe ich schon als Schülerin erfahren.

Ich bin 17 Jahre alt, als meine Französischlehrerin mir den Aufenthalt in einer französischen Gastfamilie vermittelt. Drei Wochen lang lebe ich in einem kleinen Dorf nahe der Loire, mit zwei netten Gasteltern und ihrer Tochter in meinem Alter.

Mein Französisch ist noch nicht besonders gut, als wir Besuch vom Großvater bekommen. Ich werde ihm vorgestellt als deutscher Gast, da lässt der ältere Herr einen zornigen Wortschwall über mich niedergehen. Meine Gasteltern gucken ganz entsetzt. Hinterher sagen sie zu mir: Er hat vom Krieg erzählt. Gut, dass du nicht alles verstanden hast.

 

Das war in den siebziger Jahren. Bemerkenswert, wie nach dem Zweiten Weltkrieg zwischen Frankreich und Deutschland durch jahrzehntelanges Bemühen längst ein stabiles Vertrauen aufgebaut werden konnte - auch durch Maßnahmen wie diesen Schüleraustausch, an dem ich teilgenommen habe.

 

Und doch bleiben die Schrecken des Zweiten Weltkrieges in Erinnerung. Seitdem bin ich oft wieder in Frankreich gewesen, habe dort die Mahnmale gesehen, die an die Opfer des Zweiten Weltkriegs erinnern. Auch für die Opfer in der Zivilbevölkerung gibt es Mahnmale. Auf einer Fahrt durch die Normandie vor ein paar Jahren sehen mein Mann und ich ein Hinweisschild in deutscher Sprache: "Deutsche Kriegsgräberstätte" steht da.

 

Wir fahren hin, gehen durch ein Tor und stehen vor einer riesigen Rasenanlage: weitläufig, unzählige Reihen mit stummen Kreuzen aus Stein. Ein eigenartiges Gefühl, im Ausland auf diesen Gräbern die deutschen Namen zu lesen: Günter, Helmut, Fritz, Wilhelm, Heinrich. Hier in Frankreich waren sie die Feinde, diese deutschen Soldaten. Und dabei oft noch so jung - viele noch keine zwanzig Jahre alt. Ich denke an meine Großväter, die auch in diesem Krieg gekämpft haben. Und ich denke an den französischen Großvater meiner Gastfamilie. Auch sie sind einander Feind gewesen, wurden gegeneinander aufgehetzt, heute kaum noch vorstellbar.

 

Einige Wochen später gehe ich in Hamburg an der Alster spazieren. Dort am Alsterufer entdecke ich eine Skulptur, errichtet zum Gedenken an den Schriftsteller Wolfgang Borchert. Auf der Vorderseite steht ein Zitat des Schriftstellers: "Wir sind die Generation ohne Bindung und Tiefe. Unsere Tiefe ist der Abgrund."

 

Wolfgang Borchert hat zu dieser Generation der jungen Leute gehört, die im Krieg verheizt wurden. Nur knapp ist er entkommen. Seine Kriegserfahrungen hat er literarisch verarbeitet. "Draußen vor der Tür" ist sein bekanntestes Werk. Ich muss wieder an die Kriegsgräberstätte in Frankreich denken. Diese Generation am Abgrund, dort in der Normandie habe ich sie liegen sehen. Von einer verbrecherischen Ideologie in den Abgrund des Todes gerissen.

 

Und hier in Hamburg diese Skulptur zum Gedenken an Wolfgang Borchert. Ich gehe um die Skulptur herum. Auf der Rückseite steht ein weiteres, etwas geheimnisvolles Zitat des Dichters: "Wir sind die Generation ohne Abschiede. Aber wir wissen, dass jede Ankunft uns gehört."

 

Jedes Mal, wenn ich an der Alster an diesem Mahnmal für Wolfgang Borchert vorbeikomme, denke ich auch an die deutsche Kriegsgräberstätte in der Normandie. Wie gut, dass zwischen Deutschland und Frankreich heute eine freundschaftliche Verbundenheit besteht. Ich hoffe, dass die Lehren aus der Geschichte in Europa noch lange nachwirken.

 

"Liebt eure Feinde", sagt Jesus, "tut wohl denen, die euch hassen; segnet, die euch verfluchen; bittet für die, die euch beleidigen" (Lk 6,27f). Eine schwierig zu erfüllende Forderung, finde ich. Sie verlangt, dass man über seinen eigenen Schatten springt.

Und doch lässt sich am Beispiel von Deutschland und Frankreich erfahren: Es ist möglich. Man muss es wollen, und man muss eine Menge Geduld aufbringen, bis sich alte Verletzungen lösen, bis ehemalige Gegner sich allmählich wieder eine friedliche gemeinsame Zukunft vorstellen können. Segensreich, wenn das gelingt.

 

Es gilt das gesprochene Wort.