„Der HERR ist mein Licht und mein Heil; vor wem sollte ich mich fürchten! Der HERR ist meines Lebens Kraft; vor wem sollte mir grauen!“ heißt es im Psalm 27. Als Krankenhausseelsorgerin denke ich bei diesem schönen Psalmwort auch: Da muss man die Patienten nicht lange fragen, wovor sie sich fürchten und wovor ihnen graut. Die einen fürchten sich vor langsamen Ersticken und Tod, die anderen grauen sich vor den Schmerzen, die Tag und Nacht nicht aufhören wollen, sie haben Angst vor der fünften Operation, und sie malen sich aus, dass das gar nicht geht: ein Leben im Rollstuhl. Wieder andere wissen, dass sie nie wieder in ihrem Bett zuhause schlafen können. Und viele grauen sich auf einmal vor ihrem eigenen Körper, der ihnen selbst fremd geworden ist, weil er sie jeden Tag mit neuen Furchtbarkeiten überrascht. Da verdüstert sich auch bei gläubigen Menschen schon mal das Licht des Herrn zu einem winzigen Flämmchen und von der Lebenskraft ihres Glaubens bleibt nicht viel übrig. Der Mut fehlt, wenn er am nötigsten ist.
„Der HERR ist mein Licht und mein Heil; vor wem sollte ich mich fürchten! Der HERR ist meines Lebens Kraft; vor wem sollte mir grauen!“ heißt es in diesem Psalmgebet. Der Satz klingt wie ein Bekenntnis – aber genauso ist es eine Bitte um Mut. Ich gehe davon aus: der Mensch, der das zum ersten Mal gesagt hat, wusste, wovon er sprach. Er hatte Angst. Er fürchtete sich, ihm graute. Aber in dieser Angst schafft er es zu beten und sich dabei auf die Hoffnung zu besinnen, die seiner Angst entgegensteht. Darum hört sich der Satz auch ein bisschen so an, als wenn einer im dunklen Wald pfeift und singt, um sich selbst die Angst zu vertreiben. Gebetet bitten diese Worte um Mut, denn Mut und Angst gehören zusammen. Mut ist Angst, die gebetet hat. Mut, sich auch mit 88 Jahren nach einer Operation nicht hängen zu lassen und noch einmal laufen zu lernen und Treppen zu steigen. Mut, sich an ein Leben im Rollstuhl, an ein Leben in einem Pflegeheim zu gewöhnen. Mut, sich operieren zu lassen im vollen Bewusstsein davon, dass die Operation ein hohes Risiko in sich trägt.
Nicht bloß die Patienten, auch Ärzte und Pfleger brauchen Mut. Nämlich den Mut zu dem, was wir Menschen alle eigentlich wissen. Wir wissen, man kann krank werden, sterbenskrank und irgendwann ist Ende. Sogar Nichtraucher, so sagt man, sind sterblich. Mut zu dem, was ich eigentlich weiß, heißt auch: nicht bloß die Menschen sind sterblich, nicht bloß die anderen, sogar ich selbst. Sich damit auseinander zu setzen, von dem eigenen Lebens-Film vielleicht nur noch den Abspann vor sich zu haben, ist noch eine ganz andere Sache, die noch einmal auf eine ganz andere Weise Angst einjagt.
Ich weiß nicht, wie die Schwestern und Pfleger auf der Palliativstation, die jeden Tag und jede Nacht sich der Angst und dem Tod der anderen stellen, das aushalten. Und nicht weglaufen, wenn es zu gruselig wird. Ich habe sehr nette Ärzte kennen gelernt, die eingestehen, wie schwer es ihnen fällt, mit Patienten darüber zu reden, dass man nun „nichts mehr machen kann“. Und die sich anschließend mit den Angehörigen der Patienten herumschlagen müssen und von ihnen beschimpft werden, weil sie das nicht glauben wollen oder können.
Auch wir Klinikseelsorger brauchen jeden Tag neuen Mut zu dem, was wir eigentlich wissen. Denn es ist und bleibt jedes Mal eine ungeheure Überwindung, sich dem Leiden der anderen und dem Sterben auszusetzen. Manchmal würde ich auch am liebsten weglaufen statt zu einem Patienten zu gehen, der bald sterben wird, obwohl er gerade mal vierzig Jahre alt ist und so sympathisch. Oder zu einer Patientin, die seit Monaten auf der Intensivstation liegt ohne Aussicht jemals wieder gesund zu werden. „Der HERR ist mein Licht und mein Heil; vor wem sollte ich mich fürchten! Der HERR ist meines Lebens Kraft; vor wem sollte mir grauen!“ Ich versuche, mir diese Worte dann immer wieder zu vergegenwärtigen. Meine Angst beten zu lassen, damit sie zu Mut wird.