Morgenandacht
Meine Schuld
16.11.2016 05:35

Heute ist Buß- und Bettag, ein Feiertag. Viel merkt man davon nicht mehr. Der Buß- und Bettag ist, seitdem er 1995 als gesetzlicher Feiertag abgeschafft wurde, ein ganz normaler Arbeitstag. Die Begründung damals: Nichtstun mitten in der Woche ist ein teurer Spaß. Mit dem Geld, das an diesem Tag verdient werden könnte, ließe sich doch viel besser die Pflegeversicherung finanzieren. Darum haben die Geschäfte heute geöffnet, und jeder kann sich auch noch um 21 Uhr drei Liter Milch oder einen Kleiderschank kaufen. Aber wer möchte, kann diesen Tag durchaus zur „Besinnung und Einkehr“ nutzen.

 

Zum Beispiel zur Besinnung darauf, dass man diesen Tag schon einmal im Hinblick auf seine Kosten auf einen Sonntag verlegt hat. Das war 1939. Der Buß- und Bettag, der traditionell in den allermeisten Landeskirchen am Mittwoch gefeiert wurde, wurde kurzerhand verschoben – aus „Rücksicht auf die Erfordernisse der Kriegswirtschaft“.

Büßen und Beten mitten in der Woche konnte man sich nach Kriegsbeginn nicht mehr leisten. Erst ein paar Jahre nach Kriegsende gab es ihn wieder: den evangelischen Feiertag mitten in der Woche. Zum Büßen und Beten gab es nach Kriegsende ja Gründe genug.

 

Und doch kann ich mich nicht erinnern, dass unsere Lehrer jemals ein persönliches Wort über den 2. Weltkrieg verloren hätten und das, was sie in dieser Zeit erlebt hatten. Nicht einmal der Erdkundelehrer mit der Armprothese. Dabei kann ich mich noch gut an die Ruinen erinnern und an die Schilder in den Straßenbahnen, auf denen man gebeten wurde, für Kriegsversehrte eine Platz frei zu machen. In meinem sauberen, hellen Mädchengymnasium gingen wir in einer Reihe Hand in Hand an unseren Lehrerinnen mit einem Knicks vorbei, der steckt mir jetzt noch in den Knien. Ordnung und Betragen – die beiden Noten zierten den Kopf jedes Zeugnisses. In der hellen Pausenhalle hing zur Orientierung ein Goethe-Vers: „Gottes ist der Orient! Gottes ist der Okzident!/Nord- und südliches Gelände/Ruht im Frieden seiner Hände.“ Dass ihm dieser Frieden allerdings für ein paar lange Jahre aus den Händen geglitten war, darüber sprach man in der Schule nicht.

Gegen diese bleierne Intaktheit, gegen diese Persil weiße Ordnung hoben sich unsere Schülernächte mit den ersten Joints und Pernods und einer lockeren Sexualmoral erfrischend ab.

Allerdings wir, die nach dem Kriegsende Geborenen, hätten heute auch Gelegenheit, uns zu besinnen. Zum Beispiel auf unsere pubertäre Arroganz. So, wie unsere Eltern und Lehrer, diese langweiligen Spießer, wollten wir partout nicht werden. Man muss schon ein paar Jahre mehr auf dem Buckel haben, um die Erwachsenen von damals zu verstehen in ihrem Bemühen, endlich Ruhe zu haben und uns Sinn und Werte zu vermitteln. Sie wollten die Zeit, die hinter ihnen lag, vergessen. Es dauerte Jahre, bis ich verstand, wie unendlich erleichtert diese Generation war, nicht länger im Krieg, auf der Flucht und in Trümmern leben zu müssen, in Panik, in Lebensangst und Trauer. Wie viel Mühe hat es bereitet, den Kriegsschutt wegzuräumen und diese ganze ordentliche, uns so miefig, so zutiefst langweilig erscheinende Welt der frühen 60iger Jahre mit ihren Nierentischen und Gummibäumen, mit den Sonntagsspaziergängen und den obligatorischen Sonntagsgottesdiensten um uns aufzubauen. Es dauerte Jahre, bis ich verstand, dass die biederen Lehrerinnen, die unsere Miniröcke misstrauisch beäugten und uns vom Wert des inneren Menschen vorschwärmten, vielleicht einmal die junge Mädchen waren, die auf der Flucht von Soldaten vergewaltigt worden sind. Oder sich prostituierten, um an Nahrungsmittel zu kommen. Und dass die Männer, die damals alle noch Hut und Schlips trugen, vielleicht dasselbe Schicksal hatten wie mein Vater, der mit 17 Jahren an die Front musste und der noch Jahre später von Alpträumen gequält wurde. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, bin ich gerührt davon und dankbar, wie bemüht sie alle waren, uns, ihren Kindern, wieder ein heiles Zuhause zu schenken. Auch darauf kann man sich am Buß-und Bettag besinnen.