Gewinnen

Gottesdienst Twann
Gewinnen
Kirchgemeinde "Pilgerweg am Bielersee" in Twann / Schweiz
24.01.2016 - 10:05

Über den Gottesdienst

Paulus, der gewinnorientierte Wettkämpfer? Ein ungewöhnliches Bild. Doch der Missionar Paulus wollte seinerzeit gewinnen und das um jeden Preis. Den Preis, den er vor Augen hatte, war ein "unvergänglicher Kranz", wie im ersten Brief an die Korinther beschrieben wird. Gewinnen ist auch heute "in", der Wettbewerb allgegenwärtig. Der Gottesdienst der Kirchgemeinde „Pilgerweg am Bielersee“ aus der Kirche Twann fragt nach: Was wollen wir eigentlich gewinnen, und was tun wir dafür?
Paulus als geistiger Sparringpartner – darum kreisen die Gebete, Lieder und Predigt in diesem Gottesdienst mit Pfarrer Marc van Wijnkoop Lüthi. Musikalisch wird er begleitet von Miriam Vaucher an der Orgel und dem Klavier sowie Jérémie Jolo mit der Klarinette.

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Predigt nachlesen

Liebe Gemeinde, liebe Hörerinnen und Hörer,

wieder und wieder stand ich in den vergangenen Wochen an meinem Stehpult, mal tagsüber, mal des Nachts. Vor mir lag ein winziger Textfetzen, ein Abschnittchen aus einem Brief. Paulus von Tarsus, der erste Weltreisende in Sachen Jesus Christus, hatte ihn an die junge christliche Gemeinde von Korinth geschickt. Er äusserte sich in seinem Schreiben über Grundsätzliches – über das, was folgen könnte, wenn Christus zum inneren Hausherr geworden ist. Vielleicht darf ich es modern und knapp so umschreiben: Gott ist aus Tempeln und Schriften in deinen Alltag gekommen und in meinen, und seither sind wir nicht vor ihm und nicht für ihn, dafür mit ihm unterwegs. In Korinth aber rumort es wie im hölzernen Himmel: Die Menschen taten Alles, um in Zank und Streitlust zu verharren. Sie stritten sich bis aufs Blut um Ja-Nein-Fragen: ob ein Mann besser mit oder ohne Frau unterwegs sein solle; ob die Frau etwas zu sagen habe in der Gemeinde; wie das Abendmahl zu feiern sei; ob Götzenopferfleisch gegessen werden dürfe oder nicht. Paulus griff ein über Distanz, schrieb den Korinthern einen ersten Brief. Aus ihm stammt jener Textfetzen, der mir Kopfzerbrechen bereitet. Ich teile ihn mit euch und lese den ersten Teil: Ihr wisst doch: Die Läufer im Stadion, sie laufen zwar alle, den Siegespreis aber erhält nur einer. Lauft so, dass ihr den Sieg davontragt! Unter uns: Ich kann den Satz nicht nur nicht verstehen, er ist mir zutiefst zuwider. Ich blättere zurück in meiner inneren Bibel, blättere jesuswärts zurück. Da ist doch einer unterwegs mit denen am Rand, da heilt einer ohne Vorleistungen, da finden sich Strolche an Tischen, und er mitten unter ihnen, ein Säufer und Fresser, wie seine Gegner schimpfen! Da zeichnet einer Himmelsbilder von umwerfender Gemeinschaftlichkeit: ein Bankett mit Menschen von den Gassen und aus den Gossen, ein winziges Samenkorn, das als ausgewachsener Baum allen Platz und Schatten spendet. Und das einzige Mal, da Jesus in Sportjargon verfällt, dreht er den Spiess um: Letzte werden erste sein. Ich bleibe dabei: mir ist die Rennerei, das Gewinnen um jeden Preis von Herzen zuwider. Ich bin ermüdet und enttäuscht von einer Zeit, in der alles und jedes gezählt und gemessen wird: Reichtum, Einfluss, Flugmeilen, Schönheit, Singstimmen, Likes und Freunde und Follower und Fans. Ich bin ein Fossil, das an handfester Begegnung seine Lust und sein Genügen haben möchte. So laufen, dass ich den Sieg davon trage, geschätzter Paulus? Nein: Ich bemühe mich gar nicht erst, ich trete zu diesem Wettlauf gar nicht erst an. Eigentlich … wenn da nicht noch der zweite Teil des Textfetzens vor mir läge. Plötzlich spielt Paulus, dieser sprachliche Zickzackfahrer, nämlich noch eine ganz andere Karte aus. Er schreibt weiter: Wettkämpfer aber verzichten auf alles, jene, um einen vergänglichen Kranz zu erlangen, wir dagegen einen unvergänglichen. Kränze? Die kennen wir: Siegeskränze, Lorbeerkränze sind Leitmotive edlen Wettstreits, tauchen auf an gemeinschaftsfördernden Anlässen wie Schützen- und Schwing- und Älplerfesten, sind Auszeichnungen für Aufgeweckte und Fleissige, die sich dann bitteschön nicht auf ihnen ausruhen sollen, den Lorbeeren. Sie sind faktisch wertlos, sind nutzlos, nutzloser als ein Topf Kartoffeln oder ein Laib Brot, sind eben nur altmodische Zeichen und keine neumodischen Millionenchecks. Und dann unterscheidet er sie noch, die Kränze: jene, die Wettkämpfer, die anderen, jene verzichten auf alles, um vergängliche Kränze zu gewinnen, wir hingegen, seine Leser und Weggefährten, wir streben nach dem unvergänglichen Kranz. Endlich ist Land in Sicht für mich, den analogen Griesgram, den Verächter von Bestenlisten und Castingshows. Endlich kann ich mich wieder einhängen bei Paulus. Damit kann ich leben: mit Werten, mit unvergänglichen Werten. Im Dreivierteltakt singe, klopfe, tanze ich sie, die grossherzigen Beziehungsbrücken: Gastfreundschaft, Solidarität, Mitmenschlichkeit, Aufrichtigkeit, für die andern da sein, immer und ewig, liebevoll, treu.

 

Ja – und dann hat es geklopft.  Bevor ich „Eintreten!“ rufen konnte, ging die Türklinke nieder, schwang die schallisolierte Tür in mein Büro – und Paulus stand da.  Kein Zweifel, er war es. Ein älterer Herr, unauffällig, gekleidet nach vorgestriger Art, die schütteren Haare quer über den Kopf drapiert, ein klein wenig ausser Atem – wegen des Treppensteigens vermutlich. Von einem Heiligenschein war keine Spur zu sehen bei ihm, auch das scharfe Schwert, Sinnbild seiner Wortgewalt, trug er nicht bei sich. Aber es bestand gar kein Zweifel: Er war es. Seine vollkommene Ruhe, sein klarer und abgrundtiefer Blick verrieten es. Unter dem Arm trug er einen dünnen Stapel gebräunten Papiers, lose zusammengebunden mit einem ausgefransten Bastfaden. Vermutlich seine Briefe, fuhr es mir durch den Sinn. Und ehe ich imstande war, etwas Angemessenes, etwas Bedeutsames zu sagen, kam er zum Pult, legte mir seine Papiere hin, blätterte und drehte und wendete sie, bis das richtige oben zu liegen schien, zog eine gespitzte Feder aus der Westentasche und umrandete einen Textausschnitt – exakt jene winzige Fläche mit meinem heutigen Predigttext. Von „Ihr wisst doch: die Läufer im Stadion …“ bis zu „wir dagegen einen unvergänglichen“. Und als Paulus sicher war, dass ich den Text gesehen und gelesen hatte, zeigte er auf meinen Bildschirm, wies auf das Dreivierteltaktliedchen hin, das ich euch eben gesungen habe, und meinte ruhig, aber bestimmt und mit einem messerscharfen Unterton: „Soso. Ein ganzes Schock bester Absichten lieferst du da, Bruder. Gastfreundschaft, Solidarität, Mitmenschlichkeit.

 

Aber wo, bitteschön, wo bleiben deine eigenen Dissonanzen von Neid und Ehrgeiz, wo bleibt deine Ratlosigkeit, wo dämpft Feigheit deinen Mut? Wo bleiben die Pausen der Demut, wo die Fermaten mit Zeit zum Zuhören zwischen allem Singen? Und wo, bitte schön, wo bleiben all die anderen Stimmen auf dem Weg ins Reich Gottes? Und die anderen Tonarten? Und wo bleiben diejenigen, die gar nicht singen können, sondern nur toben oder röcheln oder stumm bleiben?“ Lange blieb es still zwischen uns. Zuerst war es das schiere Entsetzen, das Erschrecken über die Fragen, die Paulus mir da gestellt hatte. Verzweifelt versuchte ich im Geist seine Briefe durchzublättern – es sind wenige, sie haben locker unter dem Arm Platz, und eben jetzt lagen sie achtlos auf meinem Pult herum. Ob er mir vielleicht eine Testfrage gestellt hat, eine, die ich elegant mit einem Hinweis auf ein Zitat von ihm selber hätte beantworten können? Je länger es still blieb, desto mehr verschob sich mein Grübeln. Ja, wer bin ich eigentlich, dass ich wissen könnte, wie und woraus der unvergängliche Kranz geflochten ist? Wer bin ich, mich für fähig, ja gar für würdig zu halten, ihn zu bekommen? Und, schlimmer noch: Warum will ich, der altmodische Ranglistenskeptiker, jetzt doch plötzlich mittun im Kampf um Kranz und Krone? Weil ich mir vorher selber zurecht gelegt habe, was es dazu braucht? Er schwieg immer noch, der ältere Herr neben meinem Stehpult. Und als wir später bei einer Tasse Tee beisammen sassen, haben wir das Thema ruhen lassen. Nur ganz beiläufig hat er beim Abschied gemeint: „Weisst du, Bruder, diese Sache mit dem unvergänglichen Kranz – könntest du ihn erringen, wäre er eben vergänglich. Und das gilt für jeden einzelnen von uns. Wer meint, einen Kranz in seinen Trophäenschrank legen zu können, spricht von gestrigem Menschenmass. Der unvergängliche Kranz schimmert von der Zukunft her. Und vielleicht geht es nicht um persönliche Kränze und Lorbeeren, sondern um den Kranz von Lebensgeschichten, die uns erwarten?“ Mittlerweile ist es Sonntag geworden. Der Textfetzen von Paulus liegt immer noch da. Meine Redezeit verrinnt. Und darum kann ich nur erst anfangen, nur stottern in mageren Sätzen: Er leuchtet dort auf, der unvergängliche Kranz,

… wo einer den Verirrten sucht bis in die finstersten Abgründe hinein …

… wo eine mitten unter tausend Ausgehungerten den Brotbrocken teilt …

… wo ein kleines Kind eine geballte Männerfaust entkrampft …

… wo der Abendmahlskelch mitsamt dem Spiegelbild des Verräters auf seinem Grund im Spiel bleibt …

… wo Regeln für die Menschen da sind und nicht umgekehrt …

… wo ein halb erstickter Hahnenschrei Menschen weckt …

 

Amen.