„Hanna Arendt“

Gottesdienst
„Hanna Arendt“
Gottesdienst aus der Cantate-Kirche Kirchheim bei München
06.11.2016 - 10:05

Über den Gottesdienst

Ein Ehepaar aus dem Irak hat das Leben in der Gemeinde der Cantate-Kirche im Münchner Osten verändert. Als Christen in ihrem Land verfolgt mussten sie ihre Heimat verlassen. Für sechs Monate fanden sie Zuflucht in der Cantate-Gemeinde. Im Kirchenasyl, um die drohende Abschiebung aus Deutschland zu verhindern. Trotz Fremdheit, trotz unterschiedlicher Sprache und Kultur kam man sich nahe, wurde die Begegnung von allen als große Bereicherung erlebt.
 
Die Auseinandersetzung mit Fremden ist Thema in Deutschland. Gleichzeitig ist es Menschheitsthema. Und am 6. November ist es Thema des Gottesdienstes in der Cantate-Kirche in Kirchheim. Fremdsein überwinden – im Gottesdienst stellt der Schriftsteller und Biograph Alois Prinz das Leben und Werk der Philosophin Hannah Arendt vor. Pfarrerin Susanne Kießling-Prinz nimmt die Gedanken auf und setzt das eigene Fremdsein und das Fremdsein in dieser Welt in Beziehung mit dem Wort Gottes. Musikalisch wird der Gottesdienst gestaltet von dem Chor der Cantate-Kirche unter Leitung von Gerhard Jacobs. Das Orgelspiel übernimmt Andreas Obermayer.

 

Sendung zum Nachhören

 

Predigt zum Nachlesen

Liebe Gemeinde!

„Wir haben unser Zuhause und damit die Vertrautheit des Alltags verloren“, so beschreibt Hannah Arendt die Situation der Menschen, die wie sie vor den Nazis aus Deutschland geflohen waren.
Wie das ist, das kennen auch die vielen Vertriebenen und Kriegsflüchtlinge unter uns, die ihre Heimat nach dem 2. Weltkrieg verlassen mussten. Nicht immer wurden sie freundlich aufgenommen, viele Vorurteile schlugen ihnen entgegen. Man tat sich schwer, die Fremden zu akzeptieren und anzunehmen. Und es dauerte lange, manchmal mehr als eine Generation, bis man heimisch war und das Gefühl hatte, hier richtig angekommen zu sein.
Ich denke bei Hannah Arendts Worten aber auch an die vielen Fremden, die Flüchtlinge, die zurzeit unter uns leben. Die aus ihrer Heimat geflohen sind, weil dort Krieg herrscht, weil sie wegen der politischen oder wirtschaftlichen Lage in ihrem Land nicht länger bleiben können.
Fremdsein – die Vertrautheit des Alltags verlieren, das zieht sich durch die Geschichte wie ein roter Faden. Auch die Menschen des alten Israel wussten, was dies bedeutet. Als Nomaden einst nach Ägypten gekommen, mussten sie sich dort in der fremden Umgebung erst einmal einleben. Sich mit den unbekannten Bräuchen und Traditionen auseinandersetzen. Und sich damit vertraut machen, dass auch ihr Gott, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs in dem fremden Land ein Fremdling war. So richtig schlimm wurde ihre Situation allerdings, als sie nicht mehr als die willkommenen Fremden gesehen wurden, sondern als Eindringlinge, die nichts in dem Land zu suchen hätten, das ihnen inzwischen fast zur Heimat geworden war. Es sind Geschichten, wie man sie heute aufschreiben könnte. Das Alte Testament, das Geschichtsbuch der Israels, hat unzählige davon dokumentiert:
Mose führt die Israeliten wieder zurück in das gelobte Land, dann 600 Jahre später das Exil in Babylon. Nach der Eroberung Jerusalems wird die Oberschicht des Landes verschleppt in die Fremde und darf erst nach mehr als 50 Jahren wieder in die Heimat zurückkehren. Und wer zurückkehrt, hat harte Aufbauarbeit zu leisten.
Doch aus den schlimmsten Erfahrungen kann mit Gottes Hilfe Gutes entstehen: Weil die Israeliten es selbst so oft am eigenen Leibe erfahren haben, was es heißt, die Heimat zu verlassen und als Fremdlinge in einem neuen Land zu leben, deshalb sollen sie, so verlangt es Gott, die Menschen, die als Fremde in ihr Land kommen, lieben und akzeptieren, wie ihre Mitbürger. Ihre Erinnerung an ihre Zeit damals in Ägypten soll ihr Verhalten gegenüber den Fremden in ihrem Land bestimmen.

Als junge Frau hat Hannah Arendt eine Entdeckung gemacht, die ihr Leben veränderte. Bis dahin hatte sie in der Überzeugung gelebt, sie müsse ihre Besonderheit wahren und gegen andere abgrenzen. Die anderen erschienen als Fremde, als Bedrohung der eigenen Individualität. Es traf sie wie ein Hammerschlag auf den Kopf, so beschreibt sie diese Erfahrung, als ihr bewusst wurde, dass sie ihre eigene Persönlichkeit nur entwickeln kann, wenn sie sich öffnet, sich aussetzt, mit anderen in einer gemeinsamen Welt lebt. Nicht mehr ging es ihr darum, ihre Einzigartigkeit zu betonen und sich gegen andere abzugrenzen. „Ich möchte“, so schrieb Hannah Arendt, „ein Mensch unter Menschen werden.“ Denn jedes Ich ist auf andere angewiesen. Jeder Mensch kann sich nur erkennen mit und durch andere. Hannah Arendt findet dafür ein anschauliches Bild. Das, was unser Ich ausmacht, schaut uns sozusagen über die Schulter. Wir können es selbst nicht sehen, wohl aber unser Gegenüber, der uns wie ein Spiegel hilft, uns zu erkennen. Und das gilt auch umgekehrt, sodass sich ein Zwischenraum bildet, ein Raum des Gesprächs, des gemeinsamen Handelns, ein Raum, in dem wir uns gegenseitig erfahren.
Das Fremde, das mir in anderen Menschen begegnet, ist somit keine Bedrohung, sondern die Chance, mich zu erweitern, einen gefährlichen Egoismus zu überwinden. Dazu fähig ist aber nur, wer bereit ist, auch das Fremde in sich selbst wahrzunehmen und zuzulassen. Wer das Andere seiner selbst ausschließt, und wer ganz konkret andere ausschließt, der schließt sich selber aus. Den anderen als anderen zuzulassen und ihn nicht als Fremden auszuschließen, ist deshalb gerade eben kein Zeichen von Schwäche, sondern von Stärke. Nur derjenige, dem bewusst ist und der anerkennt, wieviel Fremdes im Eigenen steckt, der kann Ichstärke und Verantwortungsbewusstsein entwickeln.

Den anderen als anderen zulassen und ihn nicht als Fremden ausschließen ist kein Zeichen der Schwäche, sondern ein Zeichen von Stärke, postuliert Hannah Arendt. Einer, der das auf ganz besondere Weise gelebt und vorgelebt hat, war Jesus von Nazareth. Ohne Vorbehalte ist er auf die zugegangen, die zu seiner Zeit als fremd galten und von denen man deshalb Abstand hielt:
Die Samariterin am Jakobsbrunnen, eine Andersgläubige und Ausländerin, mit der eine Jude eigentlich nichts zu tun haben durfte, sprach er an und bat sie um Wasser. Bei dem Zöllner Zachäus lud er sich zum Essen ein, für seine Landsleute ein Skandal.
Jesus sagt nicht: Ändert ihr euch, integriert ihr euch erst einmal, dann werde ich Kontakt zu euch aufnehmen. Nein, er lässt sich auf die ihm Fremden ein, er versucht, sie so zu nehmen und zu akzeptieren, wie sie sind. Vor ihm müssen sie das, was sie von den anderen unterscheidet, was sie deshalb zu Fremden macht, nicht verstecken. Sie müssen sich nicht anpassen, so tun, als gäbe es keine Unterschiede. Und erstaunlicherweise beginnen sie gerade deshalb, weil Jesus so vorbehaltlos auf sie zugeht und dabei so manche Grenze überschreitet, ihr Leben in den Blick zu nehmen und ihr Heil bei Gott zu suchen.
Jesu Beispiel zeigt: bedingungsloses Aufeinander zugehen kann Menschen verändern. Nicht nur den anderen Menschen, sondern auch mich selbst. Oder wie Hannah Arendt es so schön umschreibt: Wir selbst, unser „Ich“ bildet sich erst im Austausch mit unserem Gegenüber, unseren Mitmenschen. Unser Menschsein, unsere Identität, lässt sich nicht im abgeschlossenen Raum des eigenen Ichs finden, sondern entwickelt sich erst in der Begegnung mit anderen Menschen.
Und das Fremde in mir selbst? Mir begegnet es, wenn ich mich frage:  War das wirklich ich, die diese Worte gesagt hat, die diese Gedanken im Inneren gedacht hat, die bei dieser Sache mitgemacht hat. Wer bin ich eigentlich?
Wer ich bin, erfahre ich nur dann, wenn ich mich dem Fremden in mir selbst stelle, wenn ich mir eingestehe, dass es auch in mir selbst so manch Fremdes gibt, das mir Angst macht, erfahre ich, wer ich bin….
Der liebevolle Blick, mit dem Jesus auch mich anschaut, hilft mir, dass ich das Fremde in mir nicht als Bedrohung empfinden muss. Auch das Fremde darf gesehen werden und zu mir gehören. Das verändert etwas. ((Auch die mir fremden Menschen, von denen ja zurzeit viele in unser Land kommen, hier leben und eine neue Heimat suchen, wollen so von mir gesehen werden. . )))
Wenn ich versuche, mich in andere Menschen hineinzuversetzen und aus ihrer Sicht die Welt zu sehen, finde ich zu mir selbst und werde fähig zur Gemeinschaft - Für Hannah Arendt war das eine große Erkenntnis.
Wenn ich nur auf mich selbst schaue und alles, was mir fremd ist verdränge oder was noch schlimmer ist, negiere und ihm die Daseinsberechtigung abspreche, verliere ich mein Selbst.


Unser „Ich“ bildet sich erst im Austausch mit unserem Gegenüber. Unser Menschsein, unsere Identität, lässt sich nicht im abgeschlossenen Raum des eigenen Ichs finden, sondern entwickelt sich in der Begegnung. , so Hannah Arendt.
Ich möchte über diesen Gedanken Hannah Arendts noch hinausgehen: Nicht nur durch den Austausch mit dem Fremden in mir und den mir fremden Menschen kann ich zu mir selbst finden –auch und vor allem der Austausch mit dem mir fremden, transzendenten Gott führt mich über mich selbst hinaus und zeigt mir so, wer ich bin. Ich bin überzeugt davon: Im Glauben an den mir unsichtbaren Gott, im Austausch und im Gespräch mit ihm, lerne ich es, mich in einem neuen Lichte zu sehen. Und kann so zu mir selbst finden.
Natürlich bleibt dieser Gott – so sehr ich mich auch bemühe ihm nahezukommen, für mich immer ein Fremder, unbegreifbar und ungreifbar. Ich kann mich ihm nur annähern im Glauben.
Doch dieser Glaube lässt mich ganz automatisch über meinen begrenzten Horizont hinausschauen, er stellt mich in Frage, er konfrontiert mich mit Gedanken und Vorstellungen, mit denen ich mich sonst niemals auseinandersetzen würde. Er bringt mich zum Nachdenken über mich und mein Leben, über mein Verhältnis zu meinen Mitmenschen.
Er stellt mich in Frage – doch das ist nichts, was mir Angst machen muss. Weil es immer vor dem Hintergrund der bedingungslosen Liebe Gottes geschieht. Meine Zukunft ist nicht festgelegt, sondern offen für Neues. Ich kann immer wieder neu anfangen, kann mich immer wieder neu entdecken. Ich bin nicht ein für alle Mal festgelegt auf meine Vorurteile, meine Eigenschaften, meine So-Sein, weil Gott mich immer wieder neu werden lässt.

Wir leben in eine offene, uns noch unbekannte Zukunft hinein. Das Alte muss vergehen, Neues muss entstehen. Immer wieder müssen wir uns die Frage stellen, wie dieses gemeinsame Leben aussehen soll. Das können wir nach Hannah Arendt nur, wenn wir „im Konzert“, gemeinsam, in all unserer Verschiedenheit uns austauschen und zusammen handeln. Dabei muss jeder seine Unverwechselbarkeit behalten und zugleich muss die Eigenart der anderen respektiert und als Chance, nicht als Einschränkung begriffen werden. Nur durch gemeinsames Handeln entsteht nach Hannah Arendt Neues und kann Gewalt überwunden werden. Gewalt kann der Einzelne verüben, mit schrecklichen Folgen. Wirkliche Macht entsteht nach Hanna Arendt nur durch gemeinsames Handeln.
Wir leben in eine offene Zukunft hinein. Das bedeutet auch, dass wir nicht wissen können, welche Folgen unser Sprechen und Handeln hat. Die Zukunft ist nicht berechenbar. Es bleibt immer eine Ungewissheit. In einem Rundfunk Interview meinte Hannah Arendt: „Wir fangen etwas an; wir schlagen unseren Faden in ein Netz von Beziehungen. Was daraus wird, wissen wir nie. Wir sind darauf angewiesen zu sagen: Herr, vergib ihnen, was sie tun, denn sie wissen nicht, was sie tun. Das gilt für alles Handeln. Einfach ganz konkret, weil man es nicht wissen kann. Das ist ein Wagnis.“
Dass wir dieses Wagnis der Zukunft eingehen können, verdanken wir zwei Fähigkeiten, meint Hannah Arendt: der Fähigkeit zu verzeihen und der Fähigkeit, Versprechen zu geben. Durch Verzeihen wird eine einmal entstandene Schuld vergeben. Und durch Versprechen können wir in eine ungewisse, unabsehbare Zukunft ein gewisses Maß an Sicherheit bringen. Um zu verzeihen und zu versprechen, brauchen wir andere Menschen. Niemand kann sich selbst verzeihen. Und Versprechen, die ich mir selbst gebe, sind unverbindlich. Auch hier gilt, dass wir in der Verschiedenheit, in der Pluralität unsere Menschlichkeit bewahren.

Nur durch gemeinsames Handeln entsteht Neues und kann Gewalt überwunden werden – dieser Gedanke Hannah Arendts gefällt mir. Und gibt für mich einen wichtigen Bestandteil unseres christlichen Glaubens wider. Christ sein kann ich nicht als Einzelne, sondern ist nur in der Gemeinschaft möglich.
Nicht in einer Gemeinschaft, die sich nach außen hin abschließt und alles Fremde von sich fern hält, sondern einer Gemeinschaft, die nach draußen geht. Die weitererzählt von dem, was Jesus uns geschenkt hat. Gleich von Beginn an wurde der christliche Glauben hinaus getragen in die Welt. Er musste sich mit neuen Kulturen und Sprachen auseinandersetzen. Manch Fremdes aufnehmen und damit umgehen. Neue Traditionen aufnehmen und Altes, was sich nicht mehr bewährte, ablegen. Wichtig war nur, dass der Kern der christlichen Botschaft immer derselbe blieb: Gott schenkt uns seine vorbehaltlose Liebe und wir sollen diese Liebe weitertragen hinaus in die Welt. Im Vertrauen darauf, dass bei allem Neuen, was uns die Zukunft bringt, Gott mit uns geht und uns begleitet.

(Gott lässt uns nicht allein! Deshalb brauchen wir auch keine Angst zu haben vor dem Fremden in uns selbst und den Fremden um uns – auch in unserem Land. Wir können uns vielmehr gemeinsam auf den Weg machen und uns damit auseinandersetzen. Denn nur durch gemeinsames Handeln entsteht nach Hannah Arendt Neues und kann Gewalt überwunden werden.)
Amen