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Vier-Chancen-Tournee
Der Sprung in den Tag
04.01.2025 06:35

Vierschanzentournee im Fernsehen. Das ist wie ein Neujahrsritual, das Schwung gibt für jeden neuen Tag.

 

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Seit ich denken kann, gehört die Vierschanzentournee zu den Tagen um den Jahreswechsel. Das Skispringen in den Alpen weckte bei mir als Kind die Sehnsucht nach Bergen und Schnee. Beides gibt es im norddeutschen Flachland, wo ich aufgewachsen bin, eher weniger.

Und so saß ich oft vor dem Fernseher und habe mir das immer gleiche Procedere angeschaut: Wie die Springer die Ski in die Spur setzen, die Brille nachjustieren, mehrmals kräftig ausatmen, um auf das Ab mit dem Fähnchen vom Rand zu warten.

Die kurze steile Fahrt in der Hocke auf der vorgespurten Bahn, der kräftige Abdruck am Schanzentisch und die Anspannung der Athleten beim Spiel um Halt in der Luft, möglichst lange wie ein Jumbojet beim Landeanflug. Abfangen der Wucht im Telemark. Der Schwenk im Stadion zum Einbremsen des enormen Tempos. Und zuletzt der Blick auf die Anzeigetafel mit aufgestellten Ski in der Hand. Weite, Haltungsnoten und Platzierung, und schon kommt der nächste Springer. 

Vier Tage, vier Orte im alten und im neuen Jahr, jeweils zwei Durchgänge und eine Gesamtwertung mit einem Sieger am Ende. Stundenlang können sich Menschen wie ich alle Jahre wieder diesem Schauspiel von je knapp zwei Minuten pro Sprung hingeben. Und das nun bereits seit 1953, sehr bald auch mit Fernsehübertragung und Berichterstattung in den Nachrichten und Teilnehmern aus der ganzen Welt.

Woher kommt dieser Erfolg bei den Zuschauern? Liegt es an der Ruhe der Tage nach Weihnachten und um Silvester? Willkommener Zeitvertreib? Oder inszeniert diese immer gleiche Liturgie der Skisprünge auch etwas, was meine Seele am Beginn eines neuen Jahres prägt? Die Tage, die kommen werden im neuen Jahr: wieder gut 360 Mal jeden Morgen aufstehen, mal fröhlich, mal schwer. Das Leben in die Spur setzen. Jeder Tag eine neue Chance. Vierschanzentournee als Chancentournee?

Jeder Morgen wie ein Aufstieg auf die Schanze mit neuer Chance. Mal wieder zu kurz gesprungen nach guten Absichten am Morgen. Oder unverhoffter Auftrieb und der perfekte Flug? Solche Tage, an denen Gelingen und Können auf den Punkt treffen.

Das eine wie das andere will verkraftet sein – der perfekte und der zu kurze Sprung. Das erfordert innere Spannkraft. Und ich vertraue darauf, dass Gott und seine Barmherzigkeit meinen Tag begleiten mit dem, was mir gelingt, und dem, was auf der Strecke bleibt.  Die Barmherzigkeit Gottes ist wie ein positives Vorzeichen, mit dem ich jeden Tag neu starten kann.

Ja, es gibt die mehr oder weniger mühsamen Wiederholungen des Alltags; die Routinen, die langweilig, manchmal aber auch hilfreich sind. Dennoch hat es jeder Tag verdient, dass ich ihn mit Lebensmut und Wachsamkeit beginne. So wie ein Skispringer beim Einrichten der Ski in die vorgezeichnete Spur.

Der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer schreibt einmal: "Jeder neue Morgen ist ein neuer Anfang unsers Lebens. Jeder Tag ist ein abgeschlossenes Ganzes. Der heutige Tag ist die Grenze unsers Sorgens und Mühens."

"Darum", so Bonhoeffer, "schuf Gott Tag und Nacht, damit wir nicht im Grenzenlosen wanderten, sondern am Morgen schon das Ziel des Abends vor uns sähen. Wie die alte Sonne doch täglich neu aufgeht, so ist auch die ewige Barmherzigkeit Gottes alle Morgen neu. Die alte Treue Gottes allmorgendlich neu zu fassen, mitten in einem Leben mit Gott täglich ein neues Leben mit ihm beginnen zu dürfen, das ist das Geschenk, das Gott mit jedem neuen Morgen macht." Und Bonhoeffer bekräftigt: "Nicht die Angst vor dem Tag, nicht die Last der Werke, die ich zu tun vorhabe, sondern der Herr ‚weckt mich alle Morgen; er weckt mir das Ohr‘, heißt es beim Propheten Jesaja."

Mit diesem Vertrauen starte ich in den Tag heute. Er wird wie im Flug vergehen, wie so viele. Und für jeden neuen Morgen des Jahres hoffe ich auf die Lust, den Tag so zu gestalten, dass er sinnvoll wird. Gottes Barmherzigkeit möge den Sprung in den Tag beflügeln.

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Literaturangaben:

(1) Zitat nach: https://www.dietrich-bonhoeffer.net/zitat/370-jeder-neue-morgen-ist-ein-n/.

 

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