Morgenandacht
Gemeinfrei via unsplash/ Rocío Perera
Kafkaesk
Morgenandacht von Pfarrer Holger Treutmann
03.06.2024 06:35

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Auf den Fliesen im Bad bewegt sich etwas: Sechs Beine rudern wie wild in der Luft. Ein schwarzer Käfer liegt auf dem Rücken, dreht sich und sucht Halt irgendwo. Weiß der Himmel, wie der Kleine sich hier ins Badezimmer verirrt hat. Dem Tode geweiht oder findet er einen Retter, der Mitleid mit ihm hat?

Franz Kafka hatte wohl eine solche Szene vor Augen, als er „Die Verwandlung“ schreibt. Heute vor 100 Jahren ist der Schriftsteller im Alter von nur 40 Jahren gestorben. Ob er sich selbst so gefühlt hat wie dieses Insekt, das er Ungeziefer nennt? Ein empfindsamer Geist muss er gewesen sein mit einer Sensorik für das Geschehen zu Zeiten von Industrialisierung, Erstem Weltkrieg und dynamischem Kapitalismus.

Geboren in einer jüdischen Kaufmannsfamilie in Prag wurde er in einem Versicherungsunternehmen selbst ein erfolgreicher Mitarbeiter, verbrachte aber nach Feierabend viel Zeit in der Stadt und Nächte mit dem Schreiben. Entrückt in eine andere Welt mit Stift und Papier in der Hand.

Oft sind es die Tiere, in denen er menschliche Wirklichkeit entdeckt. Verstörend für den Leser, wie eben noch handelnde Personen animalisch mutieren. So beginnt sein Roman „Die Verwandlung“ aus dem Jahre 1917: „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt. Er lag auf einem panzerartig harten Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, seinen gewölbten, braunen, von bogenförmigen Versteifungen geteilten Bauch, auf dessen Höhe sich die Bettdecke, zum gänzlichen Niedergleiten bereit, kaum noch erhalten konnte.“

Wenn der eigene Name zu einem Adjektiv geworden ist, das in die deutsche Sprache Eingang gefunden hat, dann hat man es geschafft, sollte man meinen. „Kafkaesk“ ist zur Beschreibung einer bizarren Empfindung geworden: Auf rätselhafte Weise unheimlich, bedrohlich, absurd. Den Ruhm allerdings hat Kafka weder gesucht noch war er ihm geheuer. Er war eher von Selbstzweifeln gequält und hat auf dem Sterbebett verfügt, dass seine Werke ungelesen verbrannt werden sollten; exzessiv gelebt, aber zu keiner festen Bindung fähig; insofern fast einsam wie ein Prophet, dem die Welt abhandenkommt. 

Er nimmt in seinen Werken vorweg, was zu seiner Zeit erst begann und heute eine Realität ist: eine schleichende Entfremdung des Menschen von seiner Kreatürlichkeit. Zunehmend fremdbestimmt durch Maschinen, Beschleunigung des Verkehrs, der Wirtschaft, der medialen Informationsflut. Sie lässt viele merkwürdig unbeheimatet zurück. So wie ein Insekt im gefliesten Badezimmer keinen Halt mehr findet, weil ihm die natürliche Umgebung entzogen ist.

Religion, so lege ich es mir zurecht, hat die Aufgabe, Menschen zu ihrem ursprünglichen Wesen zurückzuführen. Sie spricht von einer Entfremdung des Menschen von Gott, von sich selbst und von der Natur, deren Teil er ist. Sie nennt das „Sünde“. Dieser Begriff ist hoch missverständlich, denn es geht nicht in erster Linie um moralische Verfehlung. Das Verhängnis reicht tiefer. Im Willen zum Guten dreht die Menschheit am großen Rad der Selbstperfektionierung, verliert darüber aber zu oft sich selbst.

Franz Kafka ist in meinen Augen ein Unheilsprophet, der nicht droht, sondern verstört. Er braucht keine göttliche Instanz, auf die er sich beruft, um sein Befremden auszudrücken, etwa wenn er die Menschen in der U-Bahn beobachtet; wie alle auf dem Weg zur Arbeit leblos aneinander vorbei ins Leere starren. Er bleibt damit erbarmungslos, würde er nicht mit einem Schuss Ironie und einem oft viel zu lauten Lachen am Gewissen der Menschen rühren.

Die Propheten der Bibel mahnen ebenfalls, aber sie erinnern auch an die göttlichen Verheißungen. Sie sprechen ebenfalls von Verwandlung. Und da sind sie wieder – die Tiere: Wolf und Lamm werden gemeinsam auf einer Wiese weiden. Das Kind muss die Schlange nicht fürchten. Kafkaesk, möchte man sagen. Denn wo gibt es das, dass der Wolf nicht frisst, die Schlange nicht beißt, das Menschenkind nicht zur Bedrohung für die anderen Lebewesen wird. Aber es ist eine positiv kafkaeske Hoffnung, weil unheimlich gut.

Es gilt das gesprochene Wort.

 

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