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C the Unseen
Augen für das Ungesehene
02.01.2025 06:35

"C the Unseen" ist das Motto von Chemnitz als Kulturhauptstadt Europas 2025. Sieh das Ungesehene! Unser Autor nimmt das als guten Impuls auch für sich. 

 

Sendung zum Nachlesen

Chemnitz ist in diesem Jahr Kulturhauptstadt Europas. Das ist für die kleine Großstadt eine Auszeichnung, die manchem schmeichelhaft erscheint. Nach Dresden und Leipzig ist es nur die drittgrößte Stadt in Sachsen. In Dresden wird regiert, in Leipzig wird studiert und in Chemnitz wird gearbeitet, so sortiert eine Redensart die Rangfolge. Dieser subversive Stolz des vermeintlich Unwichtigeren scheint mir typisch für Chemnitz zu sein; diese Stadt, die das C zu ihrem Markenzeichen gemacht hat. C, englisch C. "C the unseen". "Sieh das Ungesehene." Das ist das Motto, mit dem sich Chemnitz als Kulturhauptstadt beworben hat. Ich nehme es auch als guten Impuls für mich: Schau dir das, was du noch nicht gesehen oder was du oft übersiehst. Als ich vor 30 Jahren das erste Mal in Chemnitz war, treffe ich auf eine Stadt, die im Sozialismus zur Musterstadt erkoren wurde. Der Karl-Marx-Kopf, der bis heute vor zahlreichen Platten-bauten steht, ist ein stummer Zeitzeuge. Zugleich nimmt es dem Bärtigen niemand übel, dass er über einige Jahrzehnte der Stadt mit dem C den Namen gestohlen hat. Milde scheint er in seiner Massivität vom Sockel zu lächeln; vielleicht weil er weiß, dass seine Gedanken trotz gescheitertem realen Sozialismus nach wie vor viel Wahrheit bergen. Vor 30 Jahren war Chemnitz "Rußchemnitz". Viele Gebäude waren nicht nur grau oder schwarz vom Umweltstress der Industriestadt. Sie drohten auch zu verfallen. Gut, dass eines der größten Gründerzeitviertel Europas auf der Anhöhe über der Stadt erhalten werden konnte. C the Unseen. Sieh das Ungesehene; das Unansehnliche, auch das Unsichtbare. Ein Blinder sitzt am Straßenrand. Einer, der nichts sehen kann, aber so gern sehen möchte. Die Bibel nennt ihn Bartimäus. Er sieht nicht, aber er spürt, dass Hilfe nahe ist. Jesus kommt in die Stadt. Bartimäus will vor allem: gesehen werden. Einmal von Jesus angesehen werden. Das wird Heilung bringen, zumindest für die Seele, vielleicht auch für die Augen. In jedem Fall für die Augen seines Herzens. Und er schreit. Wer nicht gesehen wird, schreit oft lauter, als es für die anderen erträglich scheint. Und sie versuchen, ihn unsichtbar zu machen. So wie man auch in Chemnitz zur Zeit des Sozialismus die Straßen für Staatsgäste aufhübschte und das Unansehnliche verbarg. Jesus hört Bartimäus, hält inne und sieht ihn. Er fragt: Was willst du, dass ich dir tun soll? Die anderen wollen den Blinden am liebsten unsichtbar machen und zum Schweigen bringen. Jesus nimmt ihn mit seiner Frage hinein in die Gemeinschaft derer, die sich sehen lassen und gesehen werden. Mag sein, Chemnitz ist für viele ein blinder Fleck auf der Landkarte der Kultur. Ich habe Chemnitz auf den zweiten Blick schätzen gelernt. Hier waren Räume kulturellen Lebens weniger besetzt als in der Prunkstadt Dresden oder der Messe- und Universitätsstadt Leipzig. Hier wurde mutig gebaut nach der Wende, so als könne man nicht viel falsch machen. Ich denke an große Aufführungen und Ausstellungen, die hier stattfinden. Aber auch an Nischenkunst, Tage der jüdischen Kultur und an die Kirchen, die ihre Räume für Modernes geöffnet haben. C the Unseen. Sieh das, was du sonst nicht so siehst. In der Bibel haben das Kleine, Unscheinbare und die, die übersehen werden, einen besonderen Stellenwert bei Gott. Für mich ist das ein Augenöffner: Habe ich Augen für die verborgenen Kostbarkeiten des Lebens? Ich glaube: Selig sind, die sehen, was es zu entdecken gibt. Selig sind, die staunen können.

Es gilt das gesprochene Wort.

 

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