Morgenandacht
Gemeinfrei via unsplash/ Martin Adams
Kraftorte
Morgenandacht von Pfarrer Holger Treutmann
04.06.2024 06:35

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Die Sendung zum Nachlesen: 

Die Wanderung durch das Voralpenland führt lange durch den Wald. Endlich wärmt die Sonne Gesicht und Füße an diesem noch frühen Morgen. Die Berge im Hintergrund, Wiesen und Obstbäume, der Hof mit Stall und Scheune. Noch ist es recht still. Wenige Menschen sind unterwegs.

Etwas abseits vom Hof auf einer kleinen Anhöhe steht eine Kapelle. Wohl privat, aber ein kleiner Weg führt hinauf. Die Tür steht offen, also werfen wir einen Blick hinein. Meistens sind solche Kapellen ein wenig heruntergekommen. Auf verstaubten Altardeckchen eine Vase mit vertrockneten Blumen, Bilder von Verstorbenen aus der Familie zum Gedenken an die Ahnen. So etwas habe ich erwartet, aber es kommt anders:

Die alte Kapelle schien gerade erst renoviert worden zu sein. Frische Farbe, hell, Keramikfliesen am Boden, neue Fenster. Sie ist klein, aber ein Kunstwerk. Wer die Tür passiert, blickt auf eine Fläche zweier längs gesägter Baumstämme. Die Maserung der alten Bäume bildet den Hintergrund für ein silbriges Metallkreuz, das die hölzerne Altarwand in vier Teile vermisst. Im Kreuzungspunkt ein flacher Stein, der wie ein Edelstein wirkt.

Im unteren Drittel der Altarwand steht ein Gefäß. Zwischen den beiden Baumstämmen öffnet sich ein Spalt, aus dem Wasser über eine Metallrinne in das Gefäß strömt. Das Wasser fließt in ein flaches Rund, so dass es für einen Moment zu sehen ist, ehe es auf der anderen Seite der Schale wieder in einer Metallrinne abfließt und in den Fußboden der Kapelle geleitet wird. 

Man kann die Hand in die Schale tauchen und Stirn oder Hände benetzen; sich selbst segnen oder segnen lassen. Einige haben Teelichter in das flache Wasser gestellt. In den Rand der Metallschale ist ein Vers aus einem Psalm eingearbeitet: Gott, „bei dir ist die Quelle des Lebens und in deinem Lichte sehen wir das Licht.“ (Psalm 36,10)

„Ein Kraftort!“, denke ich, als ich in dieser Kapelle im Voralpenland stehe. Eine Quelle zum Leben mit Wasser, das fließt, als würde es durch den Betrachter hindurchfließen; ein Licht, das die gegenwärtige Situation noch einmal anders erhellt; im Licht der Ewigkeit.

Einladend, nicht belehrend. Eine Kapelle, die innehalten lässt, in der ich aber auch etwas tun kann, nämlich ein Teelicht anzünden und es ins Wasser setzen. Privat, und doch offen für die oder den, der sich darauf einlassen mag.

Wie ist das in unserer säkularen Welt, wo der Glaube sich nicht verordnen lässt; wo die etablierten Kirchen mit ihren Raumangeboten für viele eher musealen Charakter haben; wo viel Übersetzungsarbeit nötig ist, weil die biblischen Geschichten und Worte nicht mehr gekannt und geteilt werden; wo privater Glaube zwar vorhanden ist, der aber nicht unbedingt die Verbindung zu einer Glaubensgemeinschaft gesucht wird?

Ich habe den Eindruck, viele Menschen haben ein Empfinden für religiöse Kraftorte. Es lohnt sich zu fragen: Wo hat mich die Ewigkeit berührt? Das kann eine Kirche sein; eine Kapelle, die am Wegrand steht. Das kann ein Ort in der Natur sein, eine Entdeckung in der Kunst, ein Erlebnis oder eine Begegnung, die im Gedächtnis bleibt.

Wie wäre es, diesen Ort wieder einmal aufzusuchen? Oder ihn mir ins Gedächtnis zu rufen mit allen Sinnen. Wie sah es dort aus? Was habe ich gehört? Wie hat es sich angefühlt? Wie roch oder schmeckte es dort? Und diesen Ort dann in meiner Seele verankern mit der Erfahrung, dass er mir guttut; mit dem Vertrauen, dass auch mich die Ewigkeit berührt, ja durchströmt.

Solche Kraftorte erinnern mich an die Quelle des Lebens, an Gottes Licht, das mich klarer sehen lässt.

Es gilt das gesprochene Wort.

 

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