epd-bild / Jens Schulze
Militärseelsorge in der Zeitenwende
Advent in einer NATO-Kaserne in Litauen
22.12.2024 08:35

Rukla. Ein kleiner Ort in Litauen. Im Wald daneben eine Kaserne mit NATO-Soldatinnen und Soldaten auch aus Deutschland. Militärpfarrer Florian Hemme ist für sie da – jetzt kurz vor Weihnachten besonders.

Nach der Ausstrahlung können Sie an dieser Stelle den Sendetext nachlesen.


Kurz vor Weihnachten in Rukla. Das ist ein kleiner Ort in Litauen. 2000 Menschen leben hier zwischen der Hauptstadt Vilnius und Kaunas, der zweitgrößten Stadt des Landes. In einem nahegelegenen Waldstück liegt eine Kaserne, in der 1.500 Soldatinnen und Soldaten stationiert sind. 1000 von ihnen kommen aus Deutschland. Die anderen aus Tschechien, Norwegen, den Niederlanden, Belgien und Luxemburg. 

Sie gehören zur Enhanced Forward Presence Battlegroup der NATO, die von Deutschland geführt wird. Die Battlegroup – die Kampfgruppe – soll die so genannte Ostflanke der NATO schützen und dient der Abschreckung gegenüber Russland. Im Fall eines militärischen Konflikts würde wohl genau hier die Frontlinie verlaufen. Die Soldatinnen und Soldaten sollen durch ihre Ausbildung und Übung in der Lage sein, die baltischen Länder, aber mittelbar auch Polen und Deutschland zu verteidigen. 

Der Auslandsdienst verlangt ihnen nicht nur körperlich, sondern auch seelisch manches ab. 


Florian Hemme aus dem niedersächsischen Faßberg ist seit Ende Oktober der evangelische Militärpfarrer, der für die Truppe da ist. Er begleitet die Soldatinnen und Soldaten bei ihrem Auslandseinsatz. 

Florian Hemme: Welche Begegnung hat sie besonders berührt? 
Ich erinnere mich noch gut an eine Begegnung an einem späten Mittwochabend. Ich kam gera-de aus einem der Sportzelte und war in Richtung meiner Stube unterwegs. Ungefähr auf halbem Weg hat mich ein Soldat angesprochen. Wir hatten nebeneinander trainiert, aber uns nicht unterhalten. Er sagte, Sie sind doch der Militärpfarrer hier. Ich habe das Gefühl, mit Ihnen kann man reden. In der Folge erzählte er mir seine persönliche Situation und wir haben uns gut 30 Minuten unterhalten. Für mich war die Begegnung deswegen so eindrücklich, weil es nicht immer die großen Gottesdienste und Andachten sind, um Menschen zu erreichen. Häufig reicht es, einfach Mensch zu sein, dass die Menschen sehen, dass auch ich als Militärpfarrer in den 30er Jahren fest auf dem Boden stehe, dass ich so bin wie sie, dass ich Sport mache und auch, wie sie, essen gehe und gerne Freude am Leben habe.

Die Militärseelsorge hat die Aufgabe, die Religionsfreiheit innerhalb der Bundeswehr zu gewährleisten. Die Geistlichen stehen in keiner militärischen Hierarchie. Und anders als in an-deren europäischen Ländern tragen sie keine Uniform und keine Waffen. 

Die Soldatinnen und Soldaten wissen, dass sie in den Militärgeistlichen vertrauensvolle Ansprechpartner haben. Sie hören zu, wenn es mit dem Vorgesetzten Konflikte gibt oder wenn sie die fehlende Privatsphäre in der mit mehreren Männern oder Frauen belegten Stube belastet. Besonders in der Advents- und Weihnachtszeit fällt vielen die Trennung von Familie und Freunden schwer.

Florian Hemme: Welche Themen sind wichtig?
Oftmals geht es um menschliche Beziehungen hier vor Ort oder in der Heimat. Die Trennung von der Ehefrau, dem Partner, den Freundinnen oder den Eltern – diese Trennung kann man nicht üben. Viele sehen ihre Kinder über Monate hinweg nicht. Das beschäftigt die Menschen hier. Es sind aber auch Themen wie: mein Vater oder meine Mutter musste plötzlich ins Krankenhaus kommen und ich kann nicht vor Ort sein. Wie regle ich das? Wie schaffe ich es, dass Menschen dann in der Heimat da sind für meine engsten Verwandten? Auch Probleme hier im Dienst sind immer wieder Thema in meinen Gesprächen. Oftmals können wir aber direkt vor Ort im Gespräch eine gute Lösung finden.

Als Militärseelsorger unterliegt Florian Hemme dem Seelsorgegeheimnis. Kein Gericht und kein General können ihn zwingen zu erzählen, was ihm anvertraut wurde. Im Laufe eines Tages führt der Pfarrer viele Gespräche mit Soldatinnen und Soldaten. Sein Tag beginnt früh um sieben Uhr mit Schreibtischarbeit und endet oft spät am Abend nach seinen Veranstaltungen in der Little Church, der "Kleinen Kirche" auf dem Gelände der Kaserne.

Florian Hemme: Welche Angebote machen Sie als Militärseelsorger?
Am Montagabend starten wir um 19:00 Uhr unseren Spieleabend in einem Betreuungsbereich. Ich beginne mit einer kurzen Andacht und im Anschluss spielen wir bis 21:00 Uhr verschiedene Spiele: Skat, Dart, Tischfußball, Playstation 5. Das alles ist im Angebot, damit die Soldatinnen und Soldaten einmal herauskommen aus ihrem Alltag. Am Dienstag laden wir alle um 18:30 Uhr zu einer internationalen Bandprobe ein. Es treffen sich Menschen unter-schiedlicher Nationen, spielen Gitarre, E-Piano, Schlagzeug oder Akkordeon. Viele von ihnen spielen auch am Sonntag dann im Gottesdienst. Am Sonntag feiern wir um 19:03 Uhr Gottes-dienst in der Little Church. Als erste Amtshandlung vor Ort habe ich die Gottesdienstzeit nach hinten verschoben. Der Wunsch kam von den Soldatinnen und Soldaten, die auch am Sonntagabend ihren Dienst leisten. Sie wollten nicht immer zu spät kommen und ich wollte die Gemeinde nicht warten lassen. 

Die Angebote an jedem Tag der Woche sind eine gute Ergänzung im Dienstalltag und laden Menschen ein, nicht alleine auf der Stube zu bleiben. Auch Lebenskundlicher Unterricht gehört zu den Aufgaben des Pfarrers. Der Unterricht wird von der Militärseelsorge als ethischer Unterricht verantwortet. Militärbischof Bernhard Felmberg beschreibt das so: 

Militärbischof Felmberg:
Militärgeistliche geben den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr ethisches Rüstzeug mit. Sie sind diejenigen, die mit ihnen diskutieren, auch über Fragen der Verfassung unseres Lan-des, wie ich in gewissen Situationen mich ethisch verhalte und wie ich auch mit Verletzungen umgehe seelischer Art, die mir in meinem Leben zuteilwerden. Und darüber hinaus sind wir unterwegs mit Soldatinnen und Soldaten und deren Familien auf Rüstzeiten, Freizeiten mit geistlichem Inhalt.

Militärbischof Bernhard Felmberg ist der Vorgesetzte aller 104 evangelischen Militärgeistlichen. Die Seelsorge für Soldatinnen und Soldaten in der Bundeswehr gehört ebenso wie die Polizei- oder die Gefängnisseelsorge zur Spezialseelsorge. Im Grundgesetz ist die Religionsfreiheit als ein Grundrecht hinterlegt. Religionsfreiheit heißt zum einen, dass niemand zur Religionsausübung gezwungen werden darf. 

Aber ebenso garantiert das Grundgesetz das Recht, seine Religion frei zu leben. Auch in der Bundeswehr. Seit Militärbischof Felmberg 2020 sein Amt angetreten hat, haben die Corona-Pandemie und der russische Angriffskrieg auf die Ukraine seine persönlichen Erfahrungen im Amt bestimmt. 

Militärbischof Felmberg:
In den letzten vier Jahren hat mich vor allen Dingen geprägt das intensive Zusammensein mit Soldatinnen und Soldaten und natürlich die Zeitenwende. Der Angriff Russlands auf die Ukraine war ein wesentlicher Wendepunkt, auch in dem, wie Soldaten ihre Übungen versehen. 

Im Baltikum wird die Bundeswehr in den kommenden Jahren weiter im Einsatz sein. Aber auch im Blick auf andere Konflikte in der Welt ist die Militärseelsorge gefordert.

Militärbischof Felmberg:
Ich erinnere mich daran, dass ich in Plymouth war. Dort wurde die Fregatte Hamburg vorbereitet auf ihren Einsatz im Roten Meer. Die Soldaten, die im Schiff waren, haben den ganzen Tag geübt, Angriffe abzuwehren von Schnellbooten, Drohnenangriffe, Wassereinbruch. Und als ich am Abend zu ihnen kam und sie vor der Kombüse standen, habe ich sie gefragt: Na, wie geht‘s Ihnen? Und sie sagten: Herr Bischof, wir sind auf. Ich wusste zwar nicht, was der Begriff ‚wir sind auf‘ heißt, aber ich habe gesehen, dass sie fertig ausgesehen haben, ange-strengt, k.o. Und das hat mir deutlich gemacht: Die Soldatinnen und Soldaten üben wirklich jetzt für Situationen, von denen sie wissen, dass sie wirklich eintreffen können. Und diese Ernsthaftigkeit des Übens, die Ernsthaftigkeit der Wahrnahme der eigenen Aufgabe, das hat mich und beeindruckt mich jeden Tag neu.

Die weltpolitische Lage führt in der Bundeswehr zu Veränderungen, die auch die Aufgaben der Seelsorge in der Bundeswehr beeinflussen. Welche Rolle nimmt die Militärseelsorge wahr, wenn es zu einem Krieg kommen sollte, also im Fall der Landes- und Bündnisverteidigung?

Militärpfarrerinnen und -pfarrer sind bereits jetzt bei Auslandseinsätzen im Auftrag der Ver-einten Nationen dabei, zum Beispiel im Kosovo, in Bosnien-Herzegowina oder im Mittelmeer vor dem Libanon. Oder im Auftrag der NATO in Litauen. Das Bundesministerium für Verteidigung hat die Militärseelsorge gefragt, wie und wo sie im Fall der Landes- oder Bündnisverteidigung vertreten sein wird. 

Militärbischof Felmberg:
Da muss man doch deutlich sagen, dass die Militärseelsorge vor allen Dingen an der NATO-Ostflanke eingesetzt wird. Das heißt, Soldatinnen und Soldaten in die Situationen begleitet, in denen sie Hilfe brauchen und Unterstützung brauchen. Sicherlich sind es die Orte, wo Ver-letzte zu pflegen sind, wo man sich darum kümmert, dass vielleicht auch Verletzte transportiert werden müssen. Das sind Situationen, wo man Offiziere begleitet, die vielleicht eine Todesnachricht zu Hause zu überbringen haben, wo man sich um die Familie, um die Da-heimgebliebenen kümmert, die sich sorgen, um den Sohn oder um den Ehemann, die Schwester oder die Mutter. Und von daher ist Landes- und Bündnisverteidigung eine Situation, wo Militärseelsorge völlig neuen Herausforderungen entgegensieht, weil das, was dort gefordert ist, uns alle fordert in der Militärseelsorge, nämlich bei den Soldatinnen und Sol-daten zu sein in einer schwierigen Situation.

Die Militärpfarrer und -pfarrerinnen werden in der Truppe sehr geschätzt. Nach einer sozial-wissenschaftlichen Studie sagen 96 Prozent der Soldatinnen und Soldaten der Bundewehr im Auslandseinsatz, dass die Militärseelsorge wichtig ist, 91 Prozent sagen das an Standorten in Deutschland. 

Militärbischof Felmberg:
Also viele Menschen, die auch nicht konfessionell gebunden sind, wissen, was ihnen die Militärseelsorge bietet, nämlich ein vertrauenswürdiges Gegenüber, jemand, der zuhört, jemand, der hilft, jemand, der da ist, wenn man ihn braucht. Und da spielt die Religion oder die Konfession in der Regel nur eine untergeordnete Rolle. 
Deshalb kommen auch viele Soldatinnen und Soldaten zu uns, die nicht an Gott glauben, aber daran glauben, dass sie ihrem Pfarrer vertrauen können.

Im litauischen Rukla bleiben die Männer und Frauen der Bundeswehr sechs Monate, bis sie wieder nach Deutschland zurückgehen und andere Soldatinnen und Soldaten sie ablösen. Hauptmann Sema, deren Nachname hier nicht genannt wird, ist eine 32-jährige Soldatin, die vor Kurzem von ihrem multinationalen Battlegroup-Einsatz aus Litauen zurückgekehrt ist. Hauptmann Sema war ein halbes Jahr die Adjutantin des Kontingentführers. Ihr Arbeits-schwerpunkt lag in der Verwaltung, wie sie berichtet:

Hauptmann Sema:
Das heißt, wir haben in Containern gearbeitet und sind dann in unseren abgesperrten Be-reich gegangen, haben dort dann eben sämtliche Tätigkeiten durchgeführt, beginnend von Briefings und die Briefings beziehungsweise die Runden, die wir dann hatten, sind immer unterschiedlich. 


Wir sitzen dann in einem sogenannten Huddle zusammen und sprechen eben über den vergangenen Tag und über die anstehenden zwei Wochen. Und so beginnt dann eben der Tag. Und mit dem Kontingentführer ist es natürlich reiselastiger, muss ich sagen, das heißt, wenn wir beispielsweise nach Vilnius müssen. 

Hauptmann Sema nahm in ihrem Dienst neben Sport und Freizeitangeboten auch die Möglichkeit wahr, Land und Menschen Litauens außerhalb der Kaserne kennenzulernen. So hatte sie auch lockere Kontakte zu Litauern, besonders beim Einkaufen.

Hauptmann Sema:
Da bringt man sich eben die Worte Labas rytas, also guten Morgen und ačiū für Dankeschön bei, dass man wenigstens die Kassiererin grüßen kann. Wenn wir im Dienstanzug unterwegs sind oder im Feldanzug, uns sprechen jedes Mal Leute an. Sowohl von deutschen Urlaubern als auch österreichischen Urlaubern als auch Litauern, die sich wirklich freuen. Die sagen: Schön, dass ihr da seid, und Danke, dass ihr da seid. Und die fragen auch einfach mal, wie es einem geht, also die kommen dann auf einen zu und sprechen dann auch wirklich mit einem.

Die internationalen Soldatinnen und Soldaten der NATO Battlegroup zeigen den Menschen im Baltikum, dass sie sie vor der Bedrohung nicht allein lassen. Dessen sind sie sich sehr bewusst. Sie üben für den Ernstfall, den sich keiner wünscht und von dem alle hoffen, dass es nie dazu kommt. Dafür treten sie hier in Litauen ein.

Wer erfahren will, wie die Soldatinnen und Soldaten an der NATO-Ostflanke leben und arbeiten, aber auch singen und beten, der kann heute mit ihnen Gottesdienst feiern. Das ZDF über-trägt heute um 9.30 Uhr einen evangelischen Gottesdienst aus dem multinationalen Camp der NATO in Litauen.

Es gilt das gesprochene Wort.


Musik dieser Sendung:
1.- 2. Macht hoch die Tür