Es gibt Nächte, die fühlen sich kafkaesk an. Man liegt scheinbar sicher im Bett, aber man fällt in die Tiefe von Gedanken und Ängsten. Unsere Autorin findet Halt. In einer Kombination aus Kafka und der Bibel.
Sendung nachlesen:
Versunken in die Nacht. So wie man manchmal den Kopf senkt, um nachzudenken, so ganz versunken sein in die Nacht. Ringsum schlafen die Menschen. Eine kleine Schauspielerei, eine unschuldige Selbsttäuschung, daß sie in Häusern schlafen, in festen Betten, unter festem Dach, (…) in Wirklichkeit haben sie sich zusammengefunden (…) unter kaltem Himmel auf kalter Erde, (…) das Gesicht gegen den Boden hin, ruhig atmend. Und du wachst, bist einer der Wächter, findest den nächsten durch Schwenken des brennenden Holzes aus dem Reisighaufen neben dir. Warum wachst du? Einer muß wachen, heißt es. Einer muß da sein. (1)
Franz Kafka schreibt diesen Text vermutlich im Jahr 1920. Er kommt gerade von einer Kur und seine Beziehung kriselt – mal wieder.
Warum wachst du, Franz? Weil du über deine Gesundheit grübelst und über deine Beziehung? Über die weltpolitische Lage?
Einer muss wachen, einer muss da sein. Kafka wacht. Und ihm kommen seltsame Gedanken: All die Menschen um ihn herum. Sie glauben, sie lägen friedlich schlafend im Bett. Aber das stimmt nicht. Das Dach über ihrem Kopf ist nicht fest, nicht sicher.
Milena, seine Angebetete ist da in seinem Kopf. Wach und munter. Die Briefe, die er ihr schreibt, und ihre Antworten werden in Kafkas Kopf zu einem romantischen Dialog, der so nie stattgefunden hat. Oder doch, hat er. Jetzt schon. Wenn auch nur in Kafkas Kopf. Natürlich kann er da nicht schlafen. Also setzt er sich hin und schreibt. "Nachts". Einer muss ja wachen, einer muss ja da sein.
Er schaut nicht auf die Uhr, weil er nicht wissen will, wie spät es ist. Wie wenig Stunden Schlaf noch bleiben. Kafka sehnt sich nach diesem Moment, in dem es sich anfühlt, als würde man fallen. Besinnungslos durch Träume wabern. Gegen Drachen kämpfen, im All fliegen, durch ein Labyrinth fliehen. Morgen früh wird er behaupten, eigentlich in seinem warmen, sicheren Bett gelegen zu haben. Pah.
Einer muss wachen, einer muss da sein. Diese Nacht ist es wohl er.
Manchmal bin es auch ich. Dann frage ich mich am Morgen: Warum hast du gewacht? Warum bist du nicht gefallen in den Schlaf, in die Nacht? Sei überall und nirgends und außerhalb der Realität. Sei nachts wach in den Straßen der Stadt, ruhig atmend im Bett oder in der Schwerelosigkeit eines Traums. Fall in die Nacht. Fal tief. Du fällst doch niemals tiefer als in Gottes Hand.
Einer muss wachen, einer muss da sein.
Und einer ist da, überall und zu jeder Zeit da.
Es gilt das gesprochene Wort.
Literaturangaben:
(1) Ausschnitt aus: Franz Kafka, Nachts. In: Franz Kafka, Die besten Geschichten (München 2024), S. 294.