Guten Abend!
Da ist einer wütend. So wütend, dass er alle Konventionen vergisst. Er kann nicht an sich halten. Sie sind ihm ein Dorn im Auge, die Reichen. Als er sieht, wie sie nach außen hin vorbildlich leben, beten, opfern – herrscht er sie an. „Ihr, die ihr fett und behäbig auf eurem Reichtum hockt, ihr tretet das Recht der Armen mit Füßen. Ich verachte eure Feiertage, ich mag eure Versammlungen nicht riechen. An euren Opfern habe ich keinen Gefallen. Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.“ (Am 5)
Dieser Gefühlsausbruch ist fast 3000 Jahre alt. Er steht in der Bibel. Amos und andere Propheten des 8. Jahrhunderts vor Christi Geburt waren davon überzeugt: Glaube im luftleeren Raum ist nicht möglich. Er muss sich an der Realität, mitten im Hier und Jetzt beweisen. Alles Beten, alles Gottesdienst feiern ist nichts nütze, wenn wir uns nicht zugleich dafür einsetzen, dass die Benachteiligten unserer Gesellschaft auch zu ihrem Recht kommen.
Heute würde es wohl kaum ein Kirchenvertreter wagen, solch heftige Worte in den Mund zu nehmen wie Amos damals. Wir Christen sind zahm geworden. Wir bemühen uns im Namen falschverstandener Toleranz, niemandem auf die Füße zu treten. Wütende Gefühlsausbrüche wie die von Frank-Walter Steinmeier auf dem Berliner Alexanderplatz vor ein paar Tagen sind bei uns ja sowieso eine absolute Ausnahme geworden – und egal wie man sich nun dazu stellt - gerade deshalb ein solcher Renner im Internet – 2 Millionen Menschen haben dieses kurze Video angeschaut.
Mir scheint es, als hätten wir uns mit Europa einen Gemischtwarenladen der Beliebigkeiten aufgebaut, in dem jeder etwas findet um nach seiner eigenen Fasson glücklich zu werden. Ich bin sicher: die rechtspopulistischen Parteien haben genau deshalb so viel Zulauf, weil wir immer wieder Freiheit mit Beliebigkeit, Toleranz mit Gleichgültigkeit verwechseln und wir uns eigentlich selbst genug sind.
Verglichen mit anderen Staaten auf dieser Erde haben wir es doch wirklich gut in Europa! Wir können ohne Angst vor Unterdrückung unseren Glauben leben. Wir können ohne Passkontrolle durch verschiedenste Länder reisen. Die Würde des Menschen ist unser höchstes Gut. Ich finde, das alles verpflichtet uns dazu, uns nicht mit dem zufrieden zu geben was wir haben, sondern uns auch um die in Europa zu sorgen, denen es schlechter geht. Deshalb, das muss ich sagen, ärgert es mich, dass die Wahlbeteiligung an der Europawahl den Prognosen zu Folge niedriger denn je sein wird.
Die EU hat riesige ungelöste Probleme. Nahezu täglich sterben vor unseren Grenzen Flüchtlinge im Mittelmeer. Fast eine ganze Generation junger Menschen in Südeuropa wird keine Jobs finden. Ich kann verstehen, dass es deshalb nicht sehr attraktiv scheint morgen in ein Wahllokal zu gehen und eine Stimme abzugeben, von der ich nicht genau weiß, was damit passiert. Das aber ist Demokratie – zum Glück haben wir sie. Man kann daran verzweifeln oder in heiligem Zorn auch einmal schonungslos die Wahrheit sagen. Beides gehört dazu. Demokratie hält das aus. Denn sie funktioniert nur, wenn wir alle uns beteiligen. Ansonsten steht es schlecht um Europa. Nicht wegsehen, sondern mitgestalten. Das ist nicht nur eine Christenpflicht!
Ich wünsche Ihnen einen schönen Sonntag!
Norddeutscher Rundfunk
Redaktion: Eberhard Kügler (NDR)