Was für ein starkes Zeichen! Der Papst besucht in Erfurt eine der Geburtsstätten des Protestantismus! Für mich war das der Höhepunkt der Reise von Papst Benedikt XVI. Es war sein ausdrücklicher Wunsch, Deutschland auch als Land der Reformation zu würdigen. Was mich als evangelische Pastorin natürlich sehr freut! Und das geschah in genau dem Kloster, in dem der junge Martin Luther in der Abgeschiedenheit des Klosterlebens zu dem Menschen gereift ist, der mit seinem Ringen um Gott die Grundfesten seiner Kirche erschüttern hat.
Papst Benedikt begab sich gestern also bewusst auf die Spuren eines Mannes, der dem Klerus im 16. Jahrhundert etwas entrissen, etwas abgerungen hat: Nämlich seinen Anspruch, als einziger zu wissen, was die Bibel und Gott uns zu sagen haben. Durch seine grandiose Übersetzung der lateinischen Bibel ins Deutsche hat er den Menschen – also uns allen – die Möglichkeit gegeben, selbst mit dem Wort Gottes in Berührung zu kommen. Denn allein darauf sollen wir hören, hat er gesagt, nicht auf kirchliche Würdenträger.
Und – das ist mir als evangelischer Christin ganz besonders wichtig – von Freiheit hat er gesprochen: die uns zu Menschen macht, die sich vor keinem Machthaber und keiner Institution dieser Welt beugen müssen. Eine Freiheit, die uns aber zugleich dazu verpflichtet, verantwortlich mit unserer Welt umzugehen und unsere Mitmenschen zu lieben.
Solches Denken ist Gift für jede Institution, weil es eingespielte Macht in Frage stellt – das ist heute nicht anders als vor 500 Jahren. Dabei war der junge Martin Luther mitnichten jemand, der Traditionen achtlos über den Haufen werfen wollte. Nein! Er war ein zutiefst gläubiger Mönch, der seine Kirche liebte. Aber er suchte zuallererst nach dem Sinn kirchlichen Tuns. Nach Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit. Er hat sich nicht mit frommen Floskeln zufrieden gegeben, die er damals im kirchlichen Umfeld zur Genüge hörte.
Im Augustinerkloster in Erfurt ging es gestern vor allem um die Schwierigkeiten, die unsere Kirchen in der modernen Welt verbindet. Von Entkirchlichung war da die Rede. Über notwendige innerkirchliche Reformprozesse auf beiden Seiten wurde dagegen leider nicht gesprochen.
Dabei brennt uns doch das Thema Glaubwürdigkeit auch heute ebenso auf den Nägeln wie zu Luthers Zeiten – und das betrifft die evangelische genauso wie die katholische Kirche. Stimmen wir mit dem überein, was wir predigen? Oder halten wir eine fromme Fassade aufrecht, die beim ersten Windstoß in sich zusammen fällt? Ich frage mich, ob es heute nicht wieder Zeit ist für einen neuen Aufbruch. Keine Reformation, die uns weiter voneinander trennt, sondern eine, die uns gemeinsam zur Wurzel unseres Glaubens zurückführt: Jesus Christus. Weil Luthers Anfragen an die kirchlichen Institutionen heute noch genauso aktuell sind wie damals.
Nein, Papst Benedikt hat keine Geschenke mitgebracht, wie er selbst gesagt hat. Also machen wir weiter bei dem, was so dringend ansteht: Uns fragen, wie wir in der modernen Welt glaubwürdig von Gott sprechen und in seinem Sinn handeln können. Diesem Auftrag sollten wir uns wirklich gemeinsam stellen. Aber nicht aus Angst vor der Welt, sondern aus Liebe zu ihr. Einfach deshalb, weil unser Gott die Welt so sehr liebt, dass er selbst Mensch geworden ist.
Ich wünsche Ihnen einen gesegneten Sonntag.
(NDR)
Senderbeauftragter Jan Dieckmann
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